Schlüsselkonzept 2.11

2.11 Ergebnisse von Vergleichsstudien sollten immer vollständig veröffentlicht werden

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Wie wichtig es ist, Behandlungsentscheidungen auf der Grundlage angemessener Evidenz zu treffen, ist heute klarer denn je.

Um Evidenz als verlässlich einstufen zu können, müssen Studien, die medizinische Behandlungen untersuchen, faire Vergleiche umfassen. Zum Beispiel darf keine der Behandlungsgruppen irgendwelche vorteilhaften Eigenschaften aufweisen. Das wäre zum Beispiel der Fall, wenn Teilnehmer der Behandlungsgruppe jünger und gesünder wären als die der Kontrollgruppe. Auch müssen die Teilnehmer nach dem Zufallsprinzip den jeweiligen Gruppen zugeteilt werden, um die Ähnlichkeit wichtiger Teilnehmerindikatoren zu gewährleisten [2]. Sind Behandlungsvergleiche nicht fair, so führt das zu Verzerrungen (Biases), die die Ergebnisse einer Studie in Frage ziehen können.

„Reporting-Bias“ – oder das Selektive Berichten von Ergebnissen

Der „Reporting-Bias“ ist eine Verzerrung, die durch das selektive Berichten von Studienergebnissen oder Studien entsteht, wobei normalerweise positive Ergebnisse bevorzugt veröffentlicht werden. Reporting Bias ist in der Gesundheitsforschung weit verbreitet und als Problem schon seit geraumer Zeit bekannt [4]. Nützliche Informationen zu diesem Thema bietet auch die James Lind Library.

Es gibt verschiedene Formen von Reporting-Bias: Zum Beispiel werden statistisch signifikante, „positive“ Ergebnisse im Vergleich zu Null-Ergebnissen mit höherer Wahrscheinlichkeit überhaupt veröffentlicht („Publikationsbias“), schneller veröffentlicht („time-lag Bias“) und mit höherer Wahrscheinlichkeit in bedeutenden Fachzeitschriften veröffentlicht („Location-Bias“).

Auch innerhalb einer Studie kann Reporting-Bias auftreten. Zum Beispiel können Wissenschaftler selektiv bestimmte Ergebnisse berichten und andere nicht, je nachdem, ob ihnen Art und Richtung dieser Ergebnisse „ins Konzept passen“ („Outcome-Reporting-Bias“). Mehr zu den verschiedenen Arten von Reporting-Bias erfahren Sie hier.

Heute sind viele klinische Studien qualitativ hochwertig und Verzerrungen in Bezug auf unfaire Behandlungsvergleiche sind mittlerweile unwahrscheinlicher geworden als früher. Aber selbst wenn Studien auf fairen Behandlungsvergleichen beruhen, stellt das selektive Nicht-Publizieren von Studienergebnissen ein Problem dar, besonders wenn diese Null-Ergebnisse oder unerwartete Schlussfolgerungen für die Behandlung enthalten. Dies kann die gesamte Evidenzlage verfälschen.

Ein Beispiel: In den 1980er Jahren wurde eine Gruppe von Medikamenten (sogenannte Antiarrhythmika) oft angewandt, um Herzrhythmusstörungen zu kontrollieren, eine Indikation für die es einige Evidenz gab. Allerdings nahm man aufgrund der Tatsache, dass Herzrhythmusstörungen das Sterblichkeitsrisiko nach einem Herzinfarkt erhöhen, im Umkehrschluss an, dass diese Medikamente auch das herzinfarktbedingte Sterblichkeitsrisiko senken könnten.

Leider gab es für diese Annahme keine Evidenz. Tatsächlich war das Gegenteil der Fall: Die Medikamente verursachten in den 1980er Jahren zahlreiche Todesfälle. Später stellte sich heraus, dass Studien, die auf letale Auswirkungen dieser Medikamente hingedeutet hatten, nicht öffentlich zugänglich waren. Versuche, sie zu publizieren waren fehlgeschlagen, weil diese Ergebnisse nicht in das damalige Bild einer positiven Wirkung von Antiarrhythmika nach Herzinfarkt passten [1].

Die Folgen von Reporting-Bias für die Gesundheitsversorgung können weitreichend sein. Insbesondere wenn eine einzelne Studie als Grundlage für Behandlungsentscheidungen dient, kann das Nichtveröffentlichen oder Nichtberichten von Null-Ergebnissen schwerwiegende Konsequenzen haben.

Bedeutung für systematische Reviews

Schauen wir uns den Reporting-Bias einmal im Zusammenhang mit systematischen Reviews an. Systematische Reviews ermöglichen es an sich, unverzerrte Bewertungen von Behandlungseffekten zu erstellen. Da systematische Reviews ein Versuch sind, Verzerrungen zu reduzieren, dürften sie als verlässlicher gelten als andere Arten von Reviews (etwa narrative Reviews) oder einzelne Studien, die eher anfällig für systematische Fehler, Verzerrungen und Zufallseffekte sind [1]. Allerdings stellt die Qualität der Studien, die für den Review zur Verfügung stehen, natürlich auch eine Einschränkung der Qualität de Übersichtsarbeit dar. Wenn also die einzelnen Studien vom Reporting-Bias betroffen sind, kann auch der systematische Review die Wirksamkeit zu einer bestimmten Behandlung überschätzen oder nachteilige Wirkungungen unterschätzen.

Folgen von Reporting-Bias

Da Behandlungsentscheidungen und zukünftige Forschungsstudien von bisherigen Veröffentlichungen abhängen, können die verschiedenen Arten von Reporting-Bias schwerwiegende Folgen haben. Patienten, die auf Basis unvollständiger oder verzerrter Evidenz behandelt werden, können Schäden erleiden oder sogar sterben.
Reporting-Bias ist daher sowohl ein ein wissenschaftliches, als auch ethisches Problem [1].

Fazit

Wenn Sie einen systematischen Review lesen, sollten Sie sich fragen: „Haben die Autoren den Versuch unternommen, auch relevante nicht-veröffentlichte Evidenz zu ermitteln?“ Denn zumindest der Versuch sollte gemacht worden sein. [4].

Zum Glück gibt es Lösungsansätze für dieses Problem. In vielen Ländern besteht inzwischen die Verpflichtung, geplante Studien zu registrieren. Dadurch lässt sich später besser nachvollziehen, ob die Studien nach Plan durchgeführt und alle Ergebnisse berichtet wurden. Ein hervorragendes Werkzeug ist die Website „Trials Tracker“, auf der Organisationen und Arzneimittelhersteller benannt werden, welche Ergebnisse von registrierten Studien nicht fristgerecht berichtet haben. Hier kann man auch Studien identifizieren, deren Veröffentlichung noch aussteht.

Text: Benjamin Kwapong

Übersetzt von: Katharina Jones

Zum Originaltext 

Zu den Quellenangaben

Anmerkungen:

Dies ist der 23. Beitrag einer Blogserie zu einer Zusammenstellung von „Schlüsselkonzepten zur besseren Bewertung von Aussagen zu Behandlungen“, die im Rahmen des Informed Health Choices Projektes erarbeitet wurden. Jeder der insgesamt 36 Blogbeiträge befasst sich mit einem der Schlüsselkonzepte, die als wichtig dafür erachtet werden, Aussagen zu Wirkungen von Behandlungen besser verstehen und einordnen zu können.

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für alle Geschlechter.

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