Wir alle kennen dieses Szenario: Unser Arzt hat uns ein Medikament verschrieben. Zuhause lesen wir die Packungsbeilage und sind plötzlich mit einer Vielzahl von möglichen Nebenwirkungen konfrontiert. Wir fragen uns: Ist der zu erwartende Nutzen diese Risiken wirklich wert? Eben dies ist die zentrale Frage, die sich Patient und Arzt stellen sollten, bevor eine Behandlung begonnen oder verordnet wird. Für eine gute Antwort sollten Arzt und Patient die Vor- und Nachteile im individuellen Fall gründlich abwägen.
Stellen Sie sich vor, Sie hören von einer Tablette, dank der Sie nie wieder eine Erkältung bekommen. Klingt zu schön, um wahr zu sein? Tatsächlich finden Sie dann bei genauerer Betrachtung heraus, dass Sie diese Tablette viermal täglich für den Rest Ihres Lebens einnehmen müssen. Zudem erfahren Sie, dass 50 Prozent der Personen, die das Medikament einnehmen, davon Kopfschmerzen bekommen. Und schließlich finden Sie heraus, dass das Medikament Ihr Sterberisiko aufgrund eines Schlaganfalls oder Herzinfarkts um 60 Prozent erhöht.
Dieses erfundene Beispiel zeigt, dass die Entscheidung für oder gegen eine Behandlung von einem ausgeglichenen Verhältnis zwischen den Risiken und dem möglichen Nutzen der Behandlung abhängt. Im einfachsten Fall ist klar, welche Waagschale nach unten geht: Eine hoch wirksame Tablette ohne Nebenwirkungen, macht die Entscheidung ebenso einfach wie ein mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit drohender Herzinfarkt oder Schlaganfall. In wirklichkeit ist es aber meistens viel schwieriger zu beurteilen, auf welcher Seite die Waagschale absinkt. es gibt keine einfache Antwort, vielmehr müssen wir ein fein abgewägtes,differenziertes Urteil fällen, das von einer ganzen Reihe von Faktoren abhängt.
Was also sind die wichtigsten Punkte, die wir dabei berücksichtigen sollten?
Ist der Vorteil relevant?
Man sollte sich immer in Erinnerung halten, dass ein statistisch signifikantes Ergebnis nicht automatisch auch klinisch signifikant ist. Eine einfache Methode, dies zu beurteilen ist es, ist die Quantität und Qualität des Effektes zu berücksichtigen. Stellen Sie sich eine Studie vor, die Schlaflosigkeit untersucht und eine Behandlung betrachtet, welche die durchschnittliche Einschlafzeit um 1 Minute reduziert. Auch wenn dieser Effekt möglicherweise „statistisch signifikant“ ist (p < 0,05), ist er doch sehr gering. Zudem sollte man sich fragen: Ist die Einschlafzeit überhaupt der klinisch bedeutsamste Aspekt?
Wir müssen auch andere Aspekte berücksichtigen, die möglicherweise bedeutsamer sind, wie die Gesamtschlafdauer oder die Schlafqualität. Betrachten Sie immer sowohl die Quantität (1 Minute versus 15 Minuten) und die Qualität (beispielsweise die Einschlafzeit versus die Schlafqualität versus die Gesamtschlafdauer), wenn Sie überlegen, ob ein Effekt bedeutsam ist. Es hätte keinen Sinn, eine Behandlung anzuwenden, wenn sie das Leben eines Patienten nicht wirklich verbessert. Weitere Informationen zu diesem Konzept finden Sie hier.
Sind die Nachteile bedeutsam?
Wie die Vorteile so schwanken auch Nachteile abhängig von der Qualität und Quantität stark in ihrer Bedeutsamkeit. Betrachten Sie beispielsweise diese beiden unterschiedlichen Nachteile eines hypothetischen Medikaments zur Behandlung einer Pankreatitis (Entzündung der Bauchspeicheldrüse): eine um 10% höhere jährliche Sterblichkeit sowie ein seltenes ( weniger als monatliches) Auftreten von Übelkeit und Erbrechen bei 5% der Patienten, die das Medikament eingenommen haben. Es mag eindeutig erscheinen, dass die Sterblichkeit als qualitativer Aspekt weitaus bedeutsamer ist als Übelkeit und Erbrechen. Was aber geschieht, wenn das Sterberisiko nur 0,002% beträgt, und 88% der Teilnehmer dauerhaft an Übelkeit leiden? Wir müssen die Quantität und Qualität sowohl der Risiken als auch des Nutzens einer Behandlung abwägen, um einschätzen zu können, ob ein Effekt klinisch bedeutsam ist oder nicht.
Alles zusammensetzen
Nehmen wir einmal an, dass wir jetzt eine Behandlung betrachten, die klinisch signifikante Vor- und Nachteile aufweist. Nun müssen wir den individuellen Fall des Patienten und seine Wertvorstellungen berücksichtigen.
Was ist das Grundrisiko, und wie schwer sind die Symptome?
Das Grundrisiko ist die Wahrscheinlichkeit einer einzelnen Person, eine unerwünschte Wirkung zu erfahren. Patienten mit einem höheren Grundrisiko haben möglicherweise einen größeren Nutzen von der Behandlung. Entsprechend gibt es für Patienten mit schwereren Symptomen mehr Raum für eine Verbesserung. Beispielsweise kann für einen Patienten, der an einer schweren und stark beeinträchtigenden Schlaflosigkeit leidet, der potenzielle Nutzen eines längeren und besseren Schlafes gegenüber den Risiken überwiegen. Bei Patienten mit einem höheren Grundrisiko oder schwerwiegenderen Symptomen ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass sie eine Behandlung anwenden, wenn sie die Vorteile gegenüber den Nachteilen abwägen.
Ist die Studienpopulation auf den Patienten anwendbar?
Wenn es ein neues schmerzlinderndes Medikament gäbe, dass den Schweregrad von Migränen und Kopfschmerzen erfolgreich reduziert, würden wir es unseren Patienten verschreiben wollen. Was aber, wenn die Studie, die diesen Nutzen belegt, nur Frauen im Alter von 60-80 mit Migräne mit Aura einschließt? Unser Patient, ein 17 Jahre alter Mann mit Migräne mit Aura könnte ebenfalls einen Nutzen erfahren, der Erfolg ist für Patienten wie ihn jedoch nicht nachgewiesen. In diesem Fall könnten die Nachteile gegenüber den Vorteilen überwiegen.
Welche anderen individuellen Faktoren könnten einen Einfluss auf die Abwägung haben?
Gäbe es ein sehr erfolgreiches neues Chemotherapeutikum gegen Bauchspeicheldrüsenkrebs, hätten die betroffenen Patienten daran Interesse. Was aber geschieht, wenn es nur in einem Krebszentrum in der weit entfernten Hauptstadt erhältlich wäre? Was geschieht, wenn es sehr teuer wäre und nicht von der Krankenkasse übernommen würde? Stellen wir uns einen Patienten vor, der 78 Jahre alt und nicht privat versichert ist, in einer abgelegenen Kleinstadt (10 Stunden Fahrt bis zum Krebszentrum) lebt und eine fortgeschrittene metastasierende Krebserkrankung hat. Was muss dieser Patient abwägen? Die Kosten, die Fahrt, die Prognose und die verfügbare Unterstützung sind nur einige Beispiele der individuellen Merkmale des Patienten, die in die Gleichung einbezogen werden müssen.
Zusammenfassung
Egal ob sie Arzt oder selbst der Patient sind: Denken Sie immer daran, dass jeder Mensch anders ist – mit einzigartigen Begleitumständen und Präferenzen. Auch Sie sind anders als jeder andere, und nicht jedes Szenario ist auf ihren Fall anwendbar. Bevor wir uns für oder gegen eine Behandlung entscheiden, müssen wir stets abwägen, was der Nutzen und was mögliche Risiko sind, den Umfang und die Anzahl dieser Risiken, das anfängliche Grundrisiko, den Schweregrad der Symptome und andere individuelle Faktoren. Ob Sie ein Arzt sind, der einem Patienten eine Behandlung verschreibt, oder ob Sie diese selbst in Anspruch nehmen: Es ist wichtig, die Evidenz zu einer Behandlung in individuellen Situationen zu bewerten, um informierte Entscheidungen treffen zu können.
Text: Dennis Neuen
Übersetzt von: Brita Fiess
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Anmerkung: Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für alle Geschlechter.