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3.4 Entsprechen Behandlungsvergleiche den Gegebenheiten Ihres Umfelds?

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Um informierte Gesundheitsentscheidungen treffen zu können, ist es erforderlich, die in klinischen Studien festgestellte Evidenz in Betracht zu ziehen, und das häufig in Form eines systematischen Reviews. Nicht jeder systematische Review ist jedoch relevant – viele Faktoren müssen berücksichtigt werden, wenn bewertet wird, ob die Ergebnisse eines Reviews für einen beliebigen Patienten zutreffen.

Diese Überlegungen reichen von relativ einfachen Fragen („Weist der Patient denselben Krankheitsverlauf als die Patienten im Review auf“ oder „Ist die Studienbehandlung für Patienten in meiner Region zugänglich“) bis hin zu komplexeren Fragen („Besteht bei den Ergebnissen dieser Studie ein Risiko für Bias“ oder „Stellen die im Review gemessenen Endpunkte tatsächlich bedeutende Veränderungen dar, die der Patient schätzen wird“).

Eine sehr wichtige Überlegung, die häufig unberücksichtigt bleibt, ist, ob die klinische Studie eine Behandlung unter normalen Bedingungen oder unter Bedingungen, die fast perfekt sind, untersucht – so perfekt, dass Patienten solche optimalen Bedingungen niemals erleben werden. Bei Studien, die unter idealisierten Bedingungen durchgeführt werden, besteht eine höhere Wahrscheinlichkeit dafür, dass sie die Wirkung der Behandlung im Vergleich dazu, wie die Behandlung in der realen Welt ablaufen würde, überschätzen, und daher möglicherweise nicht wiedergeben, wie die Behandlung bei durchschnittlichen Patienten wirkt.

Um dies weiter zu erläutern, werden wir den Unterschied zwischen explanatorischen und pragmatischen Studien erklären.

Was sind explanatorische und pragmatische Studien?

Randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) gelten gemeinhin als eine der höchsten Evidenzstufen, dennoch müssen sie kostengünstig und zeitsparend sein (1). Damit sie sinnvoll sind, müssen ihnen eine klare Fragestellung zugrundeliegen. Diese Fragestellungen können grob in explanatorisch („Wirkt die Behandlung unter idealen Bedingungen?“) oder pragmatisch („Wirkt die Behandlung in der realen Welt im Rahmen der üblichen Versorgung?“) unterteilt werden (2).

Die „idealen Bedingungen“ von explanatorischen Studien bestehen im Allgemeinen aus sorgfältig ausgewählten Patienten mit einer klar definierten Krankheit, in der Behandlung mit sehr erfahrenen Ärzten und Ressourcen für eine intensive Überwachung und Nachbeobachtung (3). Diese Studien zielen darauf ab, die Chancen zur Erkennung einer möglichen Behandlungswirkung zu maximieren, häufig um nachzuweisen, dass die Behandlung eine weitere Finanzierung oder Weiterentwicklung wert ist (4).

Auf der anderen Seite zielen pragmatische Studien darauf ab, „reale Bedingungen“ nachzustellen, u. a. anhand eines sehr breiten Spektrums von Patienten, um die allgemeinen Eigenschaften der Population mit der betreffenden Krankheit besser darzustellen (1). Die Behandlungen werden ohne eine über die in den üblichen Versorgungseinrichtungen verfügbare Unterstützung hinausgehende Förderung durchgeführt, und es werden keine besonderen Anstrengungen unternommen, um die Compliance (Behandlungstreue), Überwachung und Nachbeobachtung zu gewährleisten (5). Pragmatische Studien zielen darauf ab, die Wirkung einer in der Praxis bzw. dem „wirklichen Leben“ vorgenommenen Behandlung aufzuzeigen, und werden daher als für normale/durchschnittliche Patienten zutreffender erachtet.

In Wirklichkeit stellen pragmatische und explanatorische Studien die beiden Extreme eines Spektrums dar, in dem sich die meisten RCTs befinden – ein RCT kann sehr selektive Einschlusskriterien aufweisen (charakteristisch für explanatorische Studien), möglicherweise standen für die Studie jedoch keine ausreichenden Ressourcen zur Verfügung, um die Patienten intensiv zu überwachen, und um eine angemessene Nachbeobachtung sicherzustellen (charakteristisch für pragmatische Studien). Eine ausgezeichnete Zusammenfassung hierzu findet sich in dem Artikel von David Sackett aus dem Jahre 2011: „A primer and application to a recent asthma trial“. Ein Wiederabdruck findet sich unten (5).

Es ist wichtig, dieses Spektrum bei der Entscheidung zu berücksichtigen, ob eine Studie für eine informierte gesundheitsbezogene Entscheidung relevant ist, denn, wenn eine Studie pragmatisch ist, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass sie für einzelne Patienten innerhalb der Studienpopulation relevant ist und die Bedingungen widerspiegelt, unter denen diese die Behandlung erhalten. Dies bedeutet, dass die Ergebnisse der Studie eher auf die Situation des Patienten übertragbar sind. Eine explanatorische Studie bewertet dagegen, inwiefern eine Behandlung einen Einfluss auf alle, nicht zwingend jedoch auf jeden beliebigen, Patienten hat. Darüber hinaus sind explanatorische Studien so gestaltet, dass sie die Behandlungswirkung maximieren. Daher sind Ergebnisse dieser Studien im Vergleich zur Verabreichung der Behandlung unter realen Bedingungen möglicherweise überschätzt.

Wie lässt sich feststellen, ob eine Studie pragmatisch oder explanatorisch ist?

Um festzustellen, wo innerhalb des pragmatisch-explanatorischen Kontinuums sich eine Studie befindet, müssen mehrere Komponenten der Gestaltung der Studie betrachtet werden (siehe Artikel von David Sackett). Es sind Instrumente entwickelt worden, die dem Leser dabei helfen, all diese Komponenten zu beurteilen und zu einem Gesamturteil zu der Studie zu gelangen – der Artikel von Gartlehner et al. von 2006 ist hierfür ein frühes Beispiel (6). Da jedoch jede Komponente einer Studie pragmatische oder explanatorische Charakteristiken aufweisen kann, ist es wichtig, dass ein Instrument nicht nur eine Gesamtbewertung der Studie bietet (6). Das Tool PRECIS-2 bietet eine bildliche Darstellung dessen, wo sich eine Studie in neun einzelnen Bereichen innerhalb des Kontinuums befindet, und ermöglicht dem Leser somit ein differenzierteres Bild der Position der Studie innerhalb des pragmatisch-explanatorischen Kontinuums (7).

500Abbildung 1 – Der „Pragmatic-Explanatory Continuum Indicator Summary 2“ (PRECIS-2) -Kreis. Entnommen aus: Loudon K, Treweek S, Sullivan F, Donnan P, Thorpe KE, Zwarenstein M. The PRECIS-2 tool: designing trials that are fit for purpose. BMJ. 8. Mai 2015;350:h2147

Obwohl das PRECIS-2-Tool für eine Verwendung während des Prozesses der Gestaltung der Studie geschaffen wurde, ist es für den Leser dennoch nützlich, weil es eine leicht verständliche, visuelle Darstellung des Studienablaufs vermittelt. Es bewertet neun Bereiche (7):

  1. Ein- und Ausschlusskriterien – wie ähnlich sind die in die Studie eingeschlossenen Patienten der allgemeinen Population mit dieser Krankheit?
  2. Rekrutierung – wie viele Anstrengungen über die normale Versorgung hinaus wurden unternommen, um Patienten für die Teilnahme an der Studie zu gewinnen?
  3. Gegebenheiten (Setting) – wie stark unterscheiden sich die Gegebenheiten der Studie von den üblichen Versorgungsgegebenheiten?
  4. Organisation – wie stark unterschieden sich die Ressourcen, die Erfahrung und die Organisation der Behandlung von der üblichen Versorgung?
  5. Flexibilität (Verabreichung) – wie stark unterschied sich die Flexibilität bei der Verabreichung der Behandlung von der üblichen Versorgung?
  6. Flexibilität (Therapietreue) – wie stark unterschied sich die Flexibilität bei der Therapietreue und der Überwachung von der üblichen Versorgung?
  7. Nachbeobachtung – wie stark unterschied sich die Intensität der Nachbeobachtung von der üblichen Versorgung?
  8. Primärer Endpunkt – wie relevant ist der primäre Endpunkt der Studie für die Teilnehmer?
  9. Primäre Analyse – wie viele der analysierten Daten sind direkt relevant für den primären Endpunkt?

Jeder Bereich wird mit einer Punktzahl zwischen 1 (sehr explanatorisch) bis 5 (sehr pragmatisch) bewertet und in einem Netzdiagramm (auch als Sterndiagramm oder Radardiagramm bezeichnet) dargestellt (7). Je größer der gepunktete Bereich, desto pragmatischer die Studie. Um dies zu verdeutlichen, betrachten wir im Folgenden zwei Studien:

Studie 1: In der randomisierten kontrollierten Studie einer selbst überwachten und direkt beobachteten Tuberkulosebehandlung (DOT) wird untersucht, inwiefern die direkt beobachtete Einnahme des Arzneimittels die Therapietreue bei südafrikanischen Erwachsenen mit einer neu aufgetretenen Lungentuberkulose im Vergleich zur üblichen Versorgung (Selbstverabreichung) steigert (8).
Studie 2: In der North American Symptomatic Carotid Endarterectomy (NASCET) Studie wird untersucht, inwiefern das Auftreten eines schweren Schlaganfall oder des Todes innerhalb der zwei Folgejahre bei Patienten mit einer symptomatischen Stenose der Arteria carotis verringert werden kann, wenn eine (von einem spezialisierten Gefäß- oder Neurochirurgen durchgeführte) Karotisendarteriektomie in Verbindung mit der besten medizinischen Behandlung im Vergleich mit der alleinigen besten medizinischen Behandlung durchgeführt wird (9).

Die bildliche Darstellung des pragmatisch-explanatorischen Kontinuums macht sofort offensichtlich, dass die eine Studie (DOT, in blau) pragmatischer als die andere (NASCET, in orange) ist. Obwohl das PRECIS-2-Diagramm nicht formal auf jede Studie angewendet werden kann, auf die der Leser trifft, ist es ein nützliches Instrument, um zu verstehen, wie zutreffend eine Studie für einen einzelnen Patienten ist. So hilft es beim Fällen einer informierten Gesundheitsentscheidung, da der Patient und/oder Arzt besser verstehen, dass nicht sämtliche RCTs in einem bestimmten Bereich gleichermaßen für jeden einzelnen Patienten gelten.

Text: Ian Matchett, mit Danksagungen an Sir Iain Chalmers und Professor Andrew Oxman für ihre großzügige Unterstützung.

Text übersetzt und adaptiert von: Brita Fiess

Zum Originaltext

Referenzen:

  1. Streiner D. The 2 “Es” of Research: Efficacy and Effectiveness Trials. Can J Psychiatry.
    2002;47:552–6.
  2. Schwartz D, Lellouch J. Explanatory and pragmatic attitudes in therapeutical trials. J Chronic
    Dis. 1967 Aug;20(8):637–48.
  3. Sedgwick P. Explanatory trials versus pragmatic trials. BMJ. 2014 Nov 13;349:g6694.
  4. Zwarenstein M. ‘Pragmatic’ and ‘Explanatory’ attitudes to randomized trials. James Lind Libr
    [Internet]. [cited 2018 Jan 18]; Available from:
    http://www.jameslindlibrary.org/articles/pragmatic-and-explanatory-attitudes-to-randomizedtrials/
  5. Sackett DL. Explanatory and pragmatic clinical trials: a primer and application to a recent
    asthma trial. Pol Arch Med Wewn. 2011 Aug;121(7–8):259–63.
  6. Gartlehner G, Hansen RA, Nissman D, Lohr KN, Carey TS. A simple and valid tool distinguished
    efficacy from effectiveness studies. J Clin Epidemiol. 2006 Oct 1;59(10):1040–8.
  7. Loudon K, Treweek S, Sullivan F, Donnan P, Thorpe KE, Zwarenstein M. The PRECIS-2 tool:
    designing trials that are fit for purpose. BMJ. 2015 May 8;350:h2147.
  8. Zwarenstein M, Schoeman JH, Vundule C, Lombard CJ, Tatley M. Randomised controlled trial of
    self-supervised and directly observed treatment of tuberculosis. Lancet Lond Engl. 1998 Oct
    24;352(9137):1340–3.
  9. Ferguson GG, Eliasziw M, Barr HWK, Clagett GP, Barnes RW, Wallace MC, et al. The North
    American Symptomatic Carotid Endarterectomy Trial: Surgical Results in 1415 Patients. Stroke.
    1999 Sep 1;30(9):1751–8.
  10. Thorpe KE, Zwarenstein M, Oxman AD, Treweek S, Furberg CD, Altman DG, et al. A pragmatic–
    explanatory continuum indicator summary (PRECIS): a tool to help trial designers. CMAJ Can
    Med Assoc J. 2009 May 12;180(10):E47–57.

Anmerkung:

Dies ist der 34. Beitrag aus einer Blogserie zu „Schlüsselkonzepten zur besseren Bewertung von Aussagen zu Behandlungen“, die im Rahmen des Projektes Informed Health Choices erarbeitet wurden. Jeder der insgesamt 36 Blogbeiträge befasst sich mit einem Schlüsselkonzept, das dabei hilft, Aussagen zu Wirkungen von Behandlungen besser verstehen und einordnen zu können.

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für alle Geschlechter.

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