Bloß narrativ, ohne Meta-Analyse, zu zeitaufwendig. Vorurteile über qualitative Evidenzsynthesen gibt es viele. Dabei liefern sie wertvolle Erkenntnisse über medizinische Maßnahmen und strukturelle Probleme im Gesundheitssystem. Wir haben Simon Lewin, ein Pionier der qualitativen Forschung, zu qualitativen Evidenzsynthesen als unterschätztes Sprachrohr befragt.
Ein Interview mit Simon Lewin
Harlfinger: Welche Missverständnisse über qualitative Evidenzsynthesen begegnen Ihnen immer wieder?
Lewin: Manche Leute denken, eine qualitative Evidenzsynthese, kurz QES, ist eine Übersichtsarbeit zu Interventionsstudien – nur ohne Meta-Analyse. Sie vermuten, dass die Ergebnisse narrativ, also „nur“ in Worten, aber nicht in Zahlen zusammengefasst sind. Andere wiederum glauben, das ein QES eine systematische Übersichtsarbeit ist, bei der die Güte der Versorgung von Patient*innen im Mittelpunkt steht.
Qualitative Evidenzsynthesen sind wichtig für Menschen, die von Maßnahmen betroffen sind
Harflinger: Was ist eine qualitative Evidenzsynthese wirklich?
Lewin: Eine QES ist eine systematische Übersichtsarbeit von qualitativen Einzelstudien. Das sind Studien, die ihre Daten beispielsweise durch Interviews oder Ethnografien erhoben haben und qualitative Analysemethoden nutzen. Dies ermöglicht es, nicht nur die bloße Effektivität einer gesundheitlichen oder sozialen Maßnahme zu verstehen, sondern auch, ob diese akzeptabel sind. Qualitative Evidenzsynthesen bieten umfassende Einblicke in die Erfahrungen, Meinungen und Werte von jenen Menschen, die von diesen Maßnahmen betroffen sind. Das sind zentrale Erkenntnisse für evidenzinformierte Entscheidungsprozesse, besonders in der Gesundheitsversorgung oder Sozialpolitik. Auch Patient*innen-Organisationen interessieren sich dafür.
Harflinger: Eine quantitative systematische Übersichtsarbeit zur Wirksamkeit eines Impfstoffs würde etwa berichten, wie viele Menschen vor einer Infektionserkrankung geschützt sind oder wie häufig schwere Nebenwirkungen auftreten…
Lewin: … eine qualitative Evidenzsynthese beschäftigt sich beispielsweise damit, welche Faktoren begünstigen oder verhindern, dass die Impfung gut in der Bevölkerung angenommen wird. Zufälligerweise arbeiteten wir gerade, als die Corona-Pandemie begann, an einer Evidenzsynthese zu den Kommunikationserfahrungen von Gesundheitspersonal mit älteren Menschen zum Thema Impfen [1].
Qualitative Evidenz bildet eine wichtige Grundlage für die Leitlinienerstellung
Harflinger: Qualitative Evidenzsynthesen sind eine recht neue Entwicklung, und Sie gelten als einer ihrer Pioniere. Wie kam es dazu?
Lewin: Vor fast 20 Jahren wollte ich mit einem Team in Südafrika herausfinden, wie sich die Therapietreue bei der Langzeitbehandlung von Tuberkulose verbessern lässt [2]. Dafür haben wir eine Methode entdeckt, die uns erlaubte, qualitative Studien zusammenzufassen – zum für uns ersten Mal. Später haben wir mit der Weltgesundheitsorganisation WHO zusammengearbeitet, um auf diese Weise die Erstellung von Leitlinien zu unterstützen.
Harflinger: Das war der Startschuss für eine wichtige neue Entwicklung…
Lewin: …genau. Nicht lange darauf habe ich an mehreren qualitativen Evidenzsynthesen zur Gesundheitsversorgung von Müttern und Neugeborenen[3] gearbeitet. Es ging um das so genannte Task Shifting. Dabei übernehmen weniger spezialisierte Gesundheitsberufe oder Laien wie Community Health Workers Aufgaben von hoch qualifizierten Fachkräften wie Ärzt*innen und Pflegepersonen. Wir haben untersucht, ob dieses Task Shifting aus Sicht der betroffenen Frauen und des Gesundheitspersonals machbar und akzeptabel ist, und unsere Arbeit hat wiederum WHO-Leitlinien beeinflusst.
Qualitative Evidenzsynthesen sind mit medizinethischen Prinzipien vereinbar
Harflinger: QES sind interessant für Wissenschaft, Gesundheitsberufe und Politik. Aber was ist mit jenen Menschen, die an den Studien teilnehmen und die ihre Daten zur Verfügung stellen? Ein ethisches Grundprinzip besagt, dass Forschung aktiv das Wohl dieser Menschen fördern muss. Erfüllen QES dieses sogenannte Prinzip der Benefizienz?
Lewin: Ja, denn QES können eine Art Sprachrohr sein. Sie machen viele verschiedene Bedürfnisse und Standpunkte überhaupt erst sichtbar und können dadurch unterrepräsentierten Personen eine Stimme geben. Dazu zählen marginalisierte Gruppen, die etwa aufgrund von Behinderung, sexueller Orientierung oder ethnischer Herkunft bei Entscheidungsprozessen sonst nicht beachtet werden.
Qualitative Evidenzsynthesen können als gleichwertig zum wissenschaftlichen Review betrachtet werden
Harflinger: Trotz dieser Potenziale scheint QES im Vergleich zur „großen Schwester“, also dem systematischen Review zur Wirksamkeit, eine untergeordnete Rolle zu spielen, beispielsweise bei der Leitlinienentwicklung. Woran liegt das?
Lewin: Ein Teil des Problems ist, dass qualitative Forschung immer noch als Ergänzung zu quantitativen Ansätzen betrachtet wird, statt als gleichwertig. Häufig wird qualitative Evidenz erst spät im Prozess hinzugezogen – sie erscheint dann fast als eine Art Nachgedanke. Doch es gibt auch Gegenbeispiele: In Großbritannien nutzt NICE (National Institute for Health and Care Excellence) seit einiger Zeit qualitative Evidenz für die Leitlinienentwicklung. Verschiedene renommierte Institutionen haben den Wert der qualitativen Evidenz klar erkannt, das lässt die Nachfrage steigen.
Harflinger: Sind QES so verlässlich wie quantitative Synthesen? Haben sie eine rigorose Methodik?
Durchaus! Ich finde, die Denkprozesse sind schon vergleichbar. Methodisch folgen beide Ansätze ähnlichen Schritten: Fragestellung, Literatursuche, Datenextraktion, Analyse und Synthese, Einschätzung der Aussagekraft. Der Unterschied liegt natürlich in den Werkzeugen. Doch beide Wege erfordern ein strukturiertes Vorgehen und ein hohes Maß an methodischer Präzision. In Trainingsworkshops sehe ich oft, dass Personen mit quantitativen Hintergründen das durchaus erkennen.
Cochrane Trainingsmaterial hilft bei der Erstellung qualitativer Evidenzsythesen
Harflinger: Was raten Sie Menschen, die erstmals eine qualitative Evidenzsynthese beginnen möchten?
Lewin: Es gibt mittlerweile viele Ressourcen zu den Methoden, darunter Trainings von Cochrane oder das Cochrane-Handbuch für qualitative Evidenzsynthesen, das gerade in einer neuen Auflage erscheint [4]. Auch wichtig aus meiner Sicht: Wer eine gute qualitative Evidenzsynthese verfassen will, braucht ein diverses Review-Team: Zumindest eine Person sollte eine starke inhaltlich-thematische Kompetenz haben. Ein anderes Teammitglied bringt am besten praktische Erfahrung bei der Durchführung von eigenen qualitativen Primärstudien mit, und eine weitere Person sollte gut mit der Welt der systematischen Reviews vertraut sein.

Simon Lewin, Experte für Qualitative Evidenzsynthesen, hat für die ehemalige Cochrane Effective Practice and Organisation of Care (EPOC) Review-Gruppe federführend zu QES-Methodenentwicklung und -Training beigetragen. Mittlerweile ist er Co-Leiter von Cochrane People, Health Systems and Public Health. Er interessiert sich unter anderem für systematische Übersichtsarbeiten zu komplexen Interventionen in Gesundheitssystemen. Lewin ist Professor für Health Management und Gesundheitssysteme an der Norwegian University of Science and Technology im norwegischen Ålesund.
Das Interview führte Julia Harlfinger
Quellen
[1] Glenton C, Carlsen B, Lewin S, Wennekes MD, Winje BA, Eilers R. Healthcare workers’ perceptions and experiences of communicating with people over 50 years of age about vaccination: a qualitative evidence synthesis. Cochrane Database of Systematic Reviews 2021, Issue 7. Art. No.: CD013706. DOI: 10.1002/14651858.CD013706.pub2.
[2] Munro SA, Lewin SA, Smith HJ, Engel ME, Fretheim A, Volmink J. Patient adherence to tuberculosis treatment: a systematic review of qualitative research. PLoS Med. 2007 Jul 24;4(7):e238. doi: 10.1371/journal.pmed.0040238. PMID: 17676945; PMCID: PMC1925126.
[3]Cochrane. Taskshifting general QES. https://epoc.cochrane.org/sites/epoc.cochrane.org/files/uploads/PDF_summaries/taskshifting_general_qes_final.pdf taskshifting_general_qes_final.pdf (zuletzt abgerufen am 17.03.2025).
[4]Cochrane-Campbell Handbook for Qualitative Evidence Synthesis | Cochrane Training. https://training.cochrane.org/cochrane-campbell-handbook-qualitative-evidence-synthesis, Version 1.0, 2023 (zuletzt abgerufen am 17.03.2025).