1.12 Spektakuläre Behandlungseffekte sind selten

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Dies ist der zwölfte Beitrag einer Blogserie zu einer Zusammenstellung von „Schlüsselkonzepten zur besseren Bewertung von Aussagen zu Behandlungen“, die im Rahmen des Informed Health Choices (ICH) Projektes erarbeitet wurde. Jeder der insgesamt 36 Blogbeiträge befasst sich mit einem der Schlüsselkonzepte, die als wichtig dafür erachtet werden, Aussagen zu Wirkungen von Behandlungen besser verstehen und einordnen zu können.

„Durchbruch“, „Wundermittel“, „Heilmittel“ Nur wenige Behandlungen verdienen solche dramatischen Schlagzeilen. Es ist also an der Zeit, solche Behauptungen zu hinterfragen und die Wissenschaft hinter den Schlagzeilen eingehend zu begutachten. [1]

Es gibt tatsächlich Behandlungen, die spektakuläre Wirkungen erzielen…

Behandlungen mit spektakulären Wirkungen sind solche, durch die jeder (oder fast jeder) Behandelte einen Nutzen (oder Schaden) erfährt. Zum Beispiel werden erstaunliche Erfolge mit Morphinen zur Schmerzbehandlung, Insulin bei Diabetes, Adrenalin bei schweren allergischen Reaktionen und mit Bluttransfusionen bei Schock erzielt. In diesen Fällen ist der Nutzen der Behandlungen offensichtlich, tritt sofort ein und ist durchschlagend: es besteht kaum Unsicherheit über die Wirksamkeit dieser Behandlungen [2].

Behandlungen, die eine große, durchschlagende Wirkung haben, sind jedoch selten…

Die meisten Behandlungen haben geringere, moderatere Wirkungen. Das heißt nicht, dass Behandlungen mit einer moderaten Wirkung bedeutungslos sind. Aber nur selten ist die Evidenz so eindeutig, dass keinerlei Unsicherheit darüber besteht, ob eine Behandlung wirksam ist oder nicht. Stattdessen ist es wahrscheinlicher, dass eine gewisse Unsicherheit darüber besteht, wie gut eine Behandlung wirkt, oder ob eine Behandlung möglicherweise mehr schadet als nützt.

Betrachten wir zum Beispiel einmal Aspirin …

Aspirin ist kein Heilmittel für Herzerkrankungen, aber es kann die frühe Sterblichkeit nach einem Herzinfarkt um beachtliche 20 % senken, sofern es unmittelbar nach der Diagnosestellung gegeben wird. In einigen Fällen jedoch schadet die Einnahme von Aspirin nach einem Herzinfarkt möglicherweise mehr, als dass sie nützt. So kann zum Beispiel die Einnahme von Aspirin das Schlaganfallrisiko und das Risiko für Darmblutungen erhöhen. Bei einem Patienten* mit einer zugrundeliegenden Herz-Kreislauf-Erkrankung überwiegt voraussichtlich der Nutzen der Einnahme von Aspirin gegenüber diesen Risiken. Wenn die Person jedoch keine zugrundeliegende Herz-Kreislauf-Erkrankung hat, überwiegen voraussichtlich die mit der Einnahme von Aspirin verbundenen Risiken gegenüber dem Nutzen. Dies unterstreicht, wie wichtig es ist, den Nutzen und die Risiken von Behandlungen gegeneinander abzuwägen, und zeigt auf, wie unterschiedlich der Nutzen von Behandlungen bei unterschiedlichen Personen sein kann [3].

Tatsächlich ist es bei jeglicher Behandlung eher wahrscheinlich als unwahrscheinlich, dass Unsicherheit darüber besteht, welche Behandlung für welchen Patienten am besten ist, bzw. dass Unsicherheit darüber besteht, in welchem Umfang welche Behandlung wirkt. Wie also sollten Ärzte und Patienten nun unter diesen Bedingungen vorgehen? Wenn Unsicherheit über die Wirkung einer Behandlung besteht, gilt es, die beste verfügbare wissenschaftliche Evidenz heranziehen.

Es müssen Fragen gestellt werden wie:

  • Wurden faire (unverzerrte) Behandlungsvergleiche vorgenommen?
  • Gibt es große Studien?
  • Sind die Studienteilnehmer repräsentativ für die Grundgesamtheit (für alle von dem Gesundheitsproblem betroffenen Menschen)? Wurden sie den Vergleichsgruppen für die Behandlung mittels eines Zufallsverfahrens zugewiesen?
  • Gab es eine unverzerrte Erhebung der Behandlungswirkungen?
  • Sind die statistischen Auswertungen angemessen und wurden sie sachgemäß durchgeführt?

Die zusammenfassende Beantwortung dieser Fragen basierend auf einer Anzahl verschiedener Studienberichte ist ein hilfreiches Vorgehen bei der Erstellung einer systematischen Übersichtsarbeit – eine, sofern sachgemäß durchgeführt, vertrauenswürdige Methode zur Vermeidung falscher Schlussfolgerungen [3]. Entsprechend sollte, wenn Unsicherheit besteht, idealerweise eine vorhandene systematische Übersichtsarbeit hinzugezogen werden. Wenn anschließend immer noch Unsicherheit besteht, oder wenn es keine systematische Übersichtsarbeit gibt, sollten Ärzte und Patienten diese Unsicherheit sowie die verschiedenen Behandlungsoptionen miteinander diskutieren. Wenn es keine Evidenz gibt, liegt es zudem in der Verantwortung von Wissenschaftlern, die Unsicherheit durch die Durchführung von methodisch hochwertigen Studien zu verringern.

Wie wir also gerade gesehen haben, gibt es häufig Unsicherheiten bezüglich der Wirkung von Behandlungen.

Weshalb aber sind Behauptungen über Behandlungen in den Medien manchmal so übertrieben und unverhältnismäßig? Nun, wenn in der Bevölkerung immer Ängste und Sorgen geschürt werden, wenn in Berichten verkündet wird, dass 1 von 2 Personen an Krebs erkranken wird, [4] und viele mehr an anderen Krankheiten leiden werden, ist es kein Wunder, dass die Erwartungen an der Wissenschaft und die Medizin steigen. Die Medien bestärken emotional und machen große Versprechungen, und „Durchbrüche“ und „Wundermittel“ werden über Schlagzeilen gestreut. [5] Seien Sie hier auf der Hut, denn solche Versprechungen sind unrealistisch, und der wissenschaftliche Fortschritt geht langsamer vonstatten.

Während beispielsweise immer wieder behauptet wird, dass eine Heilung von Krebs in Reichweite ist, sind immer noch enorme Forschungsanstrengungen notwendig, um dieses Ziel tatsächlich zu erreichen. In den letzten 40 Jahren hat sich beispielsweise die extrem niedrige Überlebensrate von Patienten mit Bauchspeicheldrüsenkrebs nicht verändert [6]. Bei der Veröffentlichung von Ergebnissen steht viel auf dem Spiel: Finanzierungen, Karrieren, Unternehmen, Zeit. Positive, bahnbrechende Ergebnisse sind das Ziel, und Ergebnisse werden möglicherweise verfälscht, um zu suggerieren, dass sie erreicht wurden [7]. Man muss zweifellos weit unter der Oberfläche von Medienberichten und öffentlichen Bekanntmachungen recherchieren, um die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu erfassen, die dargestellt sein sollten.

In der Welt der Medizin besteht ein klarer Bedarf an mehr Aufrichtigkeit. Die Veröffentlichung von unschlüssigen wissenschaftlichen Arbeiten oder solchen mit unscheinbaren Ergebnissen ist fundamental für die Fortentwicklung der Wissenschaft und für unser Verständnis. In der Wissenschaft und Forschung erfolgen Veränderungen graduell und erfordern ein schrittweises Vorgehen. So wurde HIV beispielsweise in den 1920er Jahren erstmalig entdeckt, jedoch wurde erst jetzt, beziehungsweise im Oktober 2016, ein mögliches Heilmittel entwickelt; eine Zusammenstellung von Arzneimitteln, deren Wirkweise immer noch nicht vollständig klar ist [8]. Diese Veränderungen erfolgen nicht plötzlich und drastisch, sondern jeder einzelne Schritt erfordert eine verlässliche Datenanalyse.

Für’s Erste gilt es kritisch zu sein bei dem, was wir lesen…
Nicht alle Behandlungen haben spektakuläre Wirkungen. Behandlungen zeichnen sich eher durch moderate, kleine oder triviale Wirkungen aus – und es gilt hier, realistisch und skeptisch gegenüber Behauptungen über jegliches neues „Wundermittel“ zu bleiben.

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Übersetzt von: Brita Fiess

*Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für alle Geschlechter.

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