Dies ist der erste einer Reihe von Blog-Artikeln, der sich auf die Schlüsselkonzepte zur besseren Bewertung von Aussagen zu Behandlungen bezieht, die vom IHC (Informed Health Choices) Projekt entwickelt wurden. Jeder Blog-Artikel erklärt eines dieser Schlüsselkonzepte, um Aussagen zu Wirkungen von Behandlungen besser verstehen und einordnen zu können.
Behandlungen können schaden : Das ist einer der ersten und wichtigsten Gründe, warum wir Behandlungen prüfen müssen. Denn das zweite Prinzip der medizinischen Ethik lautet: Nicht-Schaden.
Es mag zwar selbstverständlich erscheinen, aber viele Beispiele aus der Geschichte haben gezeigt, dass Personen durch Behandlungen geschädigt oder sogar getötet werden können, wenn kein evidenz-basierter Ansatz verfolgt wird. Nur wenige wirksame Behandlungen sind zu 100 % sicher und die Hersteller werden immer wieder mögliche schädliche Wirkungen runterspielen (verschweigen) und bei Vorteilen übertreiben. Behandlungen werden oft nicht ausreichend überprüft oder Daten zu unerwünschten Ereignissen nicht richtig aufgenommen oder berichtet.
Beispiel 1. Antiarrhythmika bei Patienten, die einen Herzinfarkt haben
Nach einem Herzinfarkt entwickeln manche Personen Herzrhythmusstörungen, auch – kardiale Arrhythmien genannt. Diese Personen sind einem höheren Sterberisiko ausgesetzt als jene, die keine Herzrhythmusstörungen entwickeln. Da es Arzneimittel gibt, die diese Störungen unterdrücken, erschien es logisch, anzunehmen, dass diese Mittel auch das Sterberisiko nach einem Herzinfarkt vermindern würden. Folglich wurden sie hierfür eingesetzt.
Die Arzneimittel wurden in klinischen Studien überprüft, aber nur um zu ermitteln, ob sie Herzrhythmusstörungen vermindern und nicht, ob sie auch das Sterberisiko nach einem Herzinfarkt beeinflussen. Als die gesammelte Studienevidenz im Jahr 1983 zum ersten Mal systematisch geprüft wurde, lag keine Evidenz vor, dass diese Arzneimittel Sterberaten verminderten [1]. Tatsächlich hatten die Mittel die genau entgegengesetzte Wirkung. Dennoch wurden sie weiterhin eingesetzt – und töteten weiterhin viele Menschen – und das fast zehn Jahre lang.
Eine Schätzung besagt, dass sie, auf dem Höhepunkt ihrer Nutzung in den späten 1980ern für zehntausende vorzeitige Todesfälle allein in den USA verantwortlich waren. Tatsächlich töteten sie jährlich mehr Amerikaner, als im gesamten Vietnamkrieg fielen [2].
Dieses Beispiel zeigt, wie die Analyse der falschen Endpunkte irreführend sein kann.
Beispiel 2. Dr. Spock
Ratschläge können auch tödlich sein. Viele Menschen haben von dem amerikanischen Kinderpflege-Spezialisten Dr. Benjamin Spock gehört, dessen Bestseller Baby and Child Care über mehrere Jahrzehnte zu einer Bibel sowohl für Eltern und Profis wurde – vor allem in den USA und dem Vereinigten Königreich. Dr. Spock lag mit einem seiner gut gemeinten Ratschläge allerdings verheerend falsch.
Mit einem anscheinend logischen Hinweis sagte er: „Es gibt zwei Nachteile, wenn ein Baby auf dem Rücken schläft. Übergibt es sich, könnte es eher am Erbrochenen ersticken. Außerdem neigt es dazu, den Kopf auf die gleiche Seite zu drehen … dies könnte die Seite des Kopfes abflachen … Ich denke es ist besser, ein Baby daran zu gewöhnen, von Anfang an auf dem Bauch zu schlafen.“
Dieser Ratschlag wurde zur gängigen Praxis, obwohl er nie gründlich untersucht wurde und es wird angenommen, dass er zehntausende verhinderbare plötzliche Kindstode verursachte [3].
Als zu diesen schädlichen Wirkungen klare Evidenz aufkam, wurde die Praxis, Babys auf dem Bauch schlafen zu lassen, aufgegeben und die Anzahl plötzlicher Kindstode fiel drastisch.
Beispiel 3. Thalidomid (Sorry, aber es ist wirklich wichtig)
Dies zeigt, dass Expertenmeinungen nicht immer richtig sind. (Dies wird in einem späteren Blogeintrag dieser Reihe weiter diskutiert. Schlüsselkonzept 1.6: Expertenmeinungen sind nicht immer richtig.)
Thalidomid ist ein besonders erschreckendes Beispiel einer neuen medizinischen Behandlung, die mehr Schaden anrichtete als Gutes tat, weil sie nie hinsichtlich ihres Zwecks überprüft wurde. Dieses Schlafmittel wurde in den späten 1950ern als eine anscheinend sicherere Alternative zu den Barbituraten eingeführt, die zu dieser Zeit regelmäßig verschrieben wurden. Eine Überdosis an Thalidomid führte, anders als bei Barbituraten, nicht zu einem Koma. Thalidomid wurde vor allem schwangeren Frauen empfohlen, um Morgenübelkeit zu erleichtern.
In den frühen 1960ern bemerkten Geburtshelfer schließlich einen starken Anstieg an Fällen von schwer missgebildeten Armen und Beinen bei Neugeborenen. Dieses vorher sehr selten vorkommende Leiden führt zu derart extrem verkürzten Gliedmaßen, dass die Hände und Füße direkt aus dem Körper herauszuwachsen scheinen.
Ärzte* in Deutschland und Australien brachten diese Missbildungen später mit der Tatsache in Verbindung, dass die Müttern in der frühen Schwangerschaft Thalidomid eingenommen hatten [4]. Dies führte zu Geldforderungen von Patienten, die sich auf Millionen von Pfund beliefen.
Die Thalidomid-Tragödie machte Ärzte, Pharmaindustrie und Patienten gleichermaßen fassungslos und führte zu einer weltweiten Überholung der Medikamentenentwicklung [5].
Solche Beispiele sind zahlreicher als man sich vorstellen möchte und sie sind alle das Ergebnis von Ärzten, Forschern und Pharmaunternehmen, die Behandlungen nicht ausreichend überprüften – und damit Schäden oder Todesfälle von tausenden Menschen und unnötige Kosten in hunderten Gesundheitseinrichtungen verursachten.
Wir brauchen also Evidenz, weil wir wissen müssen, ob eine Behandlung mehr Schaden anrichtet als Gutes tut. Außerdem sollten wir immer die Möglichkeit bedenken, dass Behandlungen Schäden zur Folge haben können.
Text: John Castle
Übersetzt von: Annika Wenzel
IHC Key Concept 1.1 Behandlungen können schädlich sein
Referenzen
[1] Furberg CD. Effect of antiarrhythmic drugs on mortality after myocardial infarction. American Journal of Cardiology 1983;52:32C-36C.
[2] Chalmers I. In the dark. Drug companies should be forced to publish all the results of clinical trials. How else can we know the truth about their products? New Scientist 2004, 6 March, p19. Citing Moore T, Deadly Medicine. New York: Simon and Schuster, 1995.
[3] Gilbert R, Salanti G, Harden M, et al. Infant sleeping position and the sudden infant death syndrome: a systematic review of observational studies and historical review of clinicians’ recommendations from 1940-2000. International Journal of Epidemiology 2005;34(4):874- 87.
[4]Stephens T, Brynner R. Dark medicine: the impact of thalidomide and its revival as a vital medicine. Cambridge, Mass: Perseus Publishing, 2001.
[5] Thomson D, Capstick T. How a risk management programme can ensure safety in thalidomide use. Pharmaceutical Journal 2004 Feb 14:194-5.
Bilder:
Dr. Spock’s Babyns Child Care
Thalomid
Beide Bilder unter CC-Lizenz.
Link zum deutschem Video auf Students4bestEvidence