Jede Mutter und jeder Vater kennt die Situation: Das Neugeborene schreit, und sofort stellt sich die Frage – hat es Hunger, ist die Windel voll, ist ihm zu warm oder zu kalt, oder hat es vielleicht sogar Schmerzen? Manchmal scheint es auch einfach nur schlechte Laune zu haben. Eltern entwickeln mit der Zeit ein Gespür dafür, die verschiedenen Arten des Schreiens zu unterscheiden. Doch selbst für sie bleibt es oft ein Rätsel, was genau das Baby bewegt. Was für Eltern zu Hause schon herausfordernd ist, wird für medizinisches Fachpersonal im Krankenhaus noch komplexer: Hier geht es nicht nur um die alltäglichen Befindlichkeiten, sondern um die Einschätzung von Schmerzen nach medizinischen Eingriffen oder bei Erkrankungen. Um Schmerzen bei Neugeborenen zu erkennen, greifen Ärzt*innen und Pflegekräfte auf spezielle Bewertungsskalen zurück.
Ein aktueller Cochrane Review hat die methodische Qualität von 27 Bewertungsskalen untersucht, die von medizinischem Fachpersonal eingesetzt werden, um den Schmerz bei Neugeborenen einzuschätzen.
Ein später Paradigmenwechsel
Bis in die 1980er Jahre wurde angenommen, dass unreife Neugeborene – also Kinder, die das Licht der Welt zu früh erblickt haben – keinen Schmerz empfinden können. Diese Annahme beruhte auf der Lehrmeinung, dass ihr zentrales Nervensystem noch nicht vollständig ausgereift sei und wichtige Verbindungen für eine bewusste Schmerzempfindung noch fehlen würden. Nach einer 1987 veröffentlichten Studie setzte ein Umdenken ein. Die Studie wies nach, dass operierte Neugeborene deutlich weniger kardiovaskulären Stress zeigen, sobald sie Opioide erhalten. (1). Wenn Schmerzmittel die Stressreaktion reduzieren, musste zuvor ein Schmerzreiz vorhanden gewesen sein. In den Folgejahren bestätigten dies weitere Studien; es trat ein Paradigmenwechsel ein: Neugeborene empfinden Schmerz und benötigen eine adäquate, schmerzlindernde Behandlung.
Hinsehen statt Hinhören
Da Neugeborene ihre Schmerzen nicht in Worten mitteilen können, sind Ärztinnen, Ärzte und Pflegende darauf angewiesen, andere Zeichen zu interpretieren, um Schmerzen bei Neugeborenen zu erkennen.
Kein einzelnes Merkmal kann zuverlässig Schmerz anzeigen. Deshalb werden bei der Entwicklung von Schmerzskalen verschiedene Merkmale kombiniert, um ihre Aussagekraft zu erhöhen. Dabei konzentriert man sich meist auf Merkmale aus drei Bereichen:
- Körperfunktionen: wie Herzfrequenz, Blutdruck und Sauerstoffsättigung. Diese Werte können sich bei Schmerz verändern, sind aber nicht eindeutig – auch Infektionen, Stress oder bestimmte Medikamente können solche Veränderungen auslösen.
- Verhalten: wie Weinen, unruhige Bewegungen oder bestimmte Gesichtsausdrücke. Veränderungen der Mimik gelten als wichtige Zeichen für Schmerz; häufige Reaktionen sind Stirnrunzeln, zusammengekniffene Augen, vertiefte Nasenfalten und ein gespitzter Mund.
- Kontext: wie die Reife des Kindes oder ob es gerade wach oder schläfrig ist. Diese Informationen helfen, andere Zeichen besser einzuordnen.
Die Evidenzlage – Schmerzen bei Neugeborenen erkennen
Der Cochrane Review (6) hat 79 Studien aus 26 Ländern analysiert. Darin bewertete das internationale Autorenteam nicht weniger als 27 verschiedene Schmerzskalen, mit denen der Schmerzzustand von insgesamt 7.197 Neugeborenen eingeschätzt wurde. Keine dieser Skalen erfüllte alle methodischen Kriterien des Bewertungsschemas COSMIN, das zur Bewertung von Messinstrumenten entwickelt wurde (s. Infokasten).

Die Vertrauenswürdigkeit der Evidenz wurde durchweg als „sehr niedrig“ bis „niedrig“ eingestuft. Besonders problematisch: Die Entwickler überprüften bei nur 7 von 27 Skalen, ob deren Struktur logisch aufgebaut ist (strukturelle Validität). Keine der Skalen wurde daraufhin geprüft, ob sie relevante Schmerzmerkmale erfasst (Inhaltsvalidität). Häufig entwickelten die Forscher die Skalen lokal und testeten sie lediglich an kleinen Stichproben.
Früher Schmerz – späte Folgen
Müssen Neugeborene intensivmedizinisch behandelt werden, sind oft auch schmerzhafte Eingriffe notwendig. Bei 6 bis 9 Prozent aller Neugeborenen ist das der Fall. Ohne ausreichende Schmerztherapie reagiert ihr Körper zum Beispiel mit der Ausschüttung von Stresshormonen wie Kortisol oder Adrenalin und gesteigertem Proteinabbau (1, 2). Dadurch kann es sogar zu Wundheilungsstörungen oder Kreislaufproblemen kommen (1).
Besonders betroffen sind frühgeborene Kinder (d.h. Neugeborene, die vor der 37. Schwangerschaftswoche zur Welt kommen). Sie starten oft mit einem langen Klinikaufenthalt ins Leben und sind dabei besonders vielen Schmerzreizen ausgesetzt. Bei ihnen ist es noch schwieriger zu erkennen, ob sie Schmerzen haben, da ihre Mimik und körperlichen Reaktionen je nach Reifegrad und Gesundheitszustand oft weniger deutlich ausgeprägt sind. Viele Körperfunktionen zeigen verzögerte oder abgeschwächte Antworten, was durch manche Medikamente noch verstärkt wird.
Frühgeborene, deren unreifes Nervensystem besonders empfindlich ist, können durch wiederholte Schmerzerfahrungen in den ersten Lebenswochen langfristig eine erhöhte Schmerzempfindlichkeit, veränderte Schmerzverarbeitung und sogar strukturelle Hirnveränderungen entwickeln (4, 5).
Fazit – Wie erkennen wir Schmerzen bei Neugeborenen?
Die Autor*innen des Cochrane Reviews kommen zu dem ernüchternden Ergebnis: Keine der untersuchten Schmerzskalen für Neugeborene ist ausreichend wissenschaftlich geprüft. Besonders kritisch ist, dass oft unklar bleibt, ob die Skalen tatsächlich das messen, was sie messen sollen – also ob Neugeborene Schmerzen haben und wie stark.
Deshalb empfehlen die Autor*innen, dass ein neues Messinstrument gezielt und nach klaren wissenschaftlichen Kriterien entwickelt wird – abgestimmt auf das Alter der Kinder, die jeweilige Situation und die Art der Schmerzen. Schmerzen bei Neugeborenen zu erkennen ist umso wichtiger, da eine Über- oder Unterdosierung von Schmerzmedikamenten bei den kleinsten Patient*innen unbedingt vermieden werden sollte. Gerade bei ihnen ist die Dosierung heikel, da Wirkstoffe langsamer abgebaut werden und sich im Körper anreichern können.
Bis es eine neue validierte Schmerzskala gibt, sollten die bestehenden Instrumente mit Vorsicht genutzt werden. Und generell gilt, dass ihre Ergebnisse immer im Zusammenhang mit der klinischen Einschätzung betrachten werden müssen.
Während die Medizin weiter an besseren Methoden zur Schmerzmessung arbeitet, bleibt die Kombination aus sorgfältiger Beobachtung, fachlicher Erfahrung und Intuition ein wichtiger Wegweiser um Schmerzen bei Neugeborenen zu erkennen– für Fachkräfte wie auch für Eltern. Ein Zusammenspiel, das am Ende dem Wohl des Kindes dient.

Dr. Alicia Zink, Cochrane Deutschland
Dr. Alicia Zink ist Ärztin und arbeitet seit Juni 2025 für Cochrane Deutschland.
Ihr Interessensschwerpunkt liegt auf den Gebieten der Kindermedizin und der Infektionserkrankungen.