Junge Frau macht zu Hause eine Insulininjektion mit Insulin-Pen.

Alles Einstellungssache: Was bringen lang wirkende Insuline?

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Lang wirkende Insulinanaloga sollen Menschen mit Diabetes mellitus vom Typ 1 helfen, ihren Blutzuckerspiegel besser einzustellen. In wie weit sie dieses Versprechen einlösen, untersucht ein aktueller, besonders aufwendiger Cochrane Review. Die darin gebündelte Evidenz ist nicht nur für Betroffene, sondern auch für gesundheitspolitische Entscheidungen weltweit wichtig.

Ihr Name sei Anna. Unsere fiktive Protagonistin ist Anfang Zwanzig, studiert Biologie – und sie hat Diabetes. Diabetes mellitus vom Typ 1, um genau zu sein. Anders als der auch als Altersdiabetes bekannte und oft mildere Diabetes vom Typ 2 tritt diese Form der Zuckerkrankheit meist schon bei jungen Menschen wie Anna auf. Grund ist ein Autoimmunprozess, der die insulinproduzierenden Zellen der Bauchspeicheldrüse (Pankreas) zerstört. Anna bleibt keine andere Wahl, als sich das fehlende Insulin regelmäßig zu spritzen.

Der Grund: Bei der Verdauung einer kohlenhydratreichen Mahlzeit wird jede Menge Glukose freigesetzt, die über die Darmwand ins Blut gelangt. Wenn das Hormon Insulin fehlt oder wenn wie beim Typ 2 seine Wirkung vermindert ist, können die Körperzellen diese Glukose jedoch nicht aufnehmen. Während die Zellen quasi hungern, reichert sich der Zucker im Blut an. Auf Dauer führt ein stark erhöhter Blutzuckerspiegel zu Organschäden und im Extremfall zu diabetischem Koma und Tod.

Injektionen gegen den Zucker

Glücklicherweise lässt sich Diabetes seit rund hundert Jahren durch die Zufuhr des fehlenden Insulins per Injektion behandeln. Zunächst kam das Insulin dafür aus tierischen Quellen, häufig in Form von gereinigtem Schweineinsulin. Seit bald vier Jahrzehnten ist gentechnisch erzeugtes menschliches Insulin der Standard in der Diabetestherapie. Es wird aus gentechnisch veränderten Organismen wie dem Darmbakterium Escherichia coli oder Hefe gewonnen.

Anna hat seit dem achten Lebensjahr Diabetes und muss Insulin ein Leben lang spritzen. Die Einstellung ihres Blutzuckerspiegels ist in der Praxis eine heikle Angelegenheit, sie hat dafür ein eigenes Schulungsprogramm besucht (1). Einerseits kann es wegen zu hoher Insulingaben immer wieder zu starken Blutzuckersenkungen kommen. Solche Hypoglykämien können kaum merklich, aber auch schwer oder sogar lebensbedrohlich verlaufen. Andererseits hat Anna große Angst vor diabetischen Langzeitschäden an Augen, Nieren oder Nerven aufgrund zu hoher Blutzuckerspiegel. Um sich optimal ‚einzustellen‘, muss sie also eine Balance zwischen zu viel und zu wenig Insulin finden. Das ist für sie und ihre Ärztin gar nicht einfach.

Stetes Insulin

Hier kommen die modernen Insulinanaloga ins Spiel. Durch ihren leicht abgewandelten chemischen Aufbau haben diese künstlichen Humaninsuline eine zeitlich veränderte Wirkung. Es gibt sowohl schnell und kurz wirkende Insulinanaloga, als auch besonders lang wirkende Varianten. Beides soll die Kontrolle des Blutzuckerspiegels im Alltag erleichtern. Denn Typ-1-Diabetiker wie Anna müssen sich einerseits mahlzeitenbezogenes (Bolus-) Insulin verabreichen – schnell wirkendes Insulin kann hier die Wartezeit bis zum Essen verkürzen oder erübrigen. Andererseits benötigt ihr Körper auch in Zeiten ohne Nahrungseinnahme eine kontinuierliche Insulinzufuhr – hier setzt man verzögert wirkende Basalinsuline ein.

Inzwischen gibt es eine ganze Reihe solcher Basalinsuline, die sich vor allem hinsichtlich ihrer Wirkdauer unterscheiden. Die längste Erfahrung (bereits seit 1936) besteht mit dem mittellang wirkenden Humaninsulin ‚NPH‘ (neutrales Protamin Hagedorn), einem Gemisch aus normalem Insulin und dem Eiweiß Protamin. Zu den neueren lang wirkenden Insulinanaloga zählen Insulin Glargin, Detemir und Degludec.

Seit vielen Jahren behandelt sich Anna mit dem gut bekannten NPH-Insulin als Basalinsulin. In ihrer Selbsthilfegruppe hat vor kurzem ein Diabetologe einen Vortrag über Insulintherapie gehalten. Er hob dabei immer wieder die Vorteile der lang wirkenden Insulinanaloga hervor. Insbesondere sollen sie nächtliche Hypoglykämien seltener machen, die für viele Betroffene ein großes Problem darstellen.

Insulinanaloga sind modern…

Anna fragt sich nun, ob es nicht an der Zeit ist, ihr NPH-Insulin gegen ein ‚modernes‘ Insulinanalogon auszutauschen. Als wissenschaftlich interessierter Mensch will sie sich aber nicht auf die Meinung eines einzelnen Experten verlassen. Auf der Suche nach zuverlässigen Informationen findet sie einen aktuellen Cochrane Review (2), der Evidenz zur Wirkung verschiedener Basalinsuline zusammenfasst. Sie weiß, dass diese systematischen Übersichtsarbeiten in der Medizin großes Ansehen haben. Tatsächlich geht dieser Review noch über die üblichen Standards für systematischen Übersichtsarbeiten hinaus. Er hat zudem eine besondere Vorgeschichte und besondere Relevanz für Entscheidungsträger*innen (siehe Kasten).

Anna interessiert sich aber zunächst einmal für die Ergebnisse. Insgesamt konnten die Autoren des Reviews 26 randomisierte kontrollierte Studien mit 8780 Teilnehmern (21% davon Kinder) ausfindig machen, die die Basis des Reviews bilden. Die darin verglichenen Therapiearten waren:

  • NPH Insulin vs. Insulin Detemir bzw. Insulin Glargin (jeweils 9 Studien).
  • Insulin Detemir vs. Insulin Glargin bzw. Insulin Degludec (jeweils 2 Studien).
  • Insulin Degludec vs. Insulin Glargin (4 Studien).

Zum Vergleich NPH Insulin vs. Insulin Degludec fanden sich keine passenden Studien.

…aber nicht unbedingt besser

Was kam nun dabei heraus? Der Vergleich der lang wirkenden Insulinanaloga zeigte keine relevanten Unterschiede hinsichtlich jener Kriterien (Endpunkte), welche die Cochrane-Autoren als aus Patientensicht besonders wichtig einschätzten: Gesamtsterblichkeit, gesundheitsbezogene Lebensqualität, schwere Hypoglykämien, nicht-tödliche Herzinfarkte/Schlaganfälle, schwere nächtliche Hypoglykämien, schwere unerwünschte Effekte (Nebenwirkungen) sowie der HbA1c-Wert als Langzeitparameter der Blutzuckereinstellung.

Die meisten Daten lagen zu dem wichtigen Vergleich des altbewährten NPH-Insulins mit den neueren Insulinanaloga vor. Auch hier gab es für fast alle Endpunkte keine wesentlichen Unterschiede zwischen den Therapiearten. Insgesamt gab es in den relativ kurzen Beobachtungszeiträume nur sehr wenige Todesfälle, Herzinfarkte oder Schlaganfälle, was Aussagen zu solchen schweren Nebenwirkungen erschwert.

Hinsichtlich schwerer Hypoglykämien schnitt Insulin Detemir etwas besser als NPH-Insulin ab. Unter 1000 Studienteilnehmenden, die NPH-Insulin bis zu 2 Jahre lang benutzen, würden den Studiendaten zufolge 115 eine schwere Hypoglykämie erleben. Mit Insulin Detemir wären dies 36 Personen weniger (95% Vertrauensbereich: 9 bis 55 weniger). Allerdings ist die Datenbasis hierfür recht uneinheitlich, d.h. die unterschiede könnten sich Zukunft durch weitere Studienergebnisse noch verschieben (moderate Vertrauenswürdigkeit der Evidenz nach GRADE). Für keine der Therapiearten fanden sich eindeutige Unterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen.

Eine Schwierigkeit in der Beurteilung der Studienergebnisse war mit einer Ausnahme die fehlende Verblindung in den Studien. Das heißt, dass sowohl die Studienteilnehmenden, als auch die behandelnden Ärzt*innen Bescheid wussten, wer welche Therapie erhält. Dies macht die Studienergebnisse anfällig für Verzerrungen. Zudem nutzten die eingeschlossenen Studien sehr uneinheitliche Definitionen unterschiedlicher Hypoglykämiegrade. Dieses Problem gab den Anstoß für einen weiteren Cochrane Review, der sich speziell mit diesen Definitionen auseinandersetzt (9).

Und was fängt Anna jetzt mit diesen durchwachsenen Ergebnissen an? Sie hat nach vielen Jahren Diabetes vielleicht Probleme, Unterzuckerungssymptome überhaupt noch wahrzunehmen – ein bekanntes, auch als hypoglycaemia unawareness bekanntes Phänomen. Ein Therapieversuch mit Insulin Detemir, das im Review mit etwas weniger Hypoglykämien verbunden war, könnte für sie in Absprache mit ihrer Ärztin deshalb interessant sein.

Diabetes – ein globales Problem

Doch diese Möglichkeit zum Ausprobieren haben nicht alle. Als durchschnittliche Bürgerin eines ärmeren Landes, beispielsweise in Afrika, könnte Anna zunächst wenig entscheiden. Denn in solchen Ländern ist oft schon die Versorgung mit herkömmlichem Insulin schwierig. Hier kommt die globale Relevanz des Reviews zum Tragen (siehe Kasten): Seit Jahren diskutieren Experten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) kontrovers, ob Insulinanaloga auf die Liste essentieller Medikamente (Essential Medicines List – EML), aufgenommen werden sollten. Die Befürchtung der Gegner: Eine Aufnahme in die EML-Liste würde Druck auf Regierungen ausüben, Insulinanaloga in ihre nationalen Medikamentenlisten zu übernehmen und sie anzukaufen (10). Dies könnte aufgrund des höheren Preises der Insulinanaloga die Verfügbarkeit von herkömmlichen Insulinen reduzieren, insbesondere für ärmere Bevölkerungsschichten, die sich Medikamente nicht aus eigener Tasche leisten können.

Die Frage, welche Vorteile neuere Insulinanaloga wirklich haben, ist also nicht nur für Patientinnen wie Anna interessant, sondern auch ein Politikum. Dies war auch die entscheidende Motivation der Cochrane-Autoren, noch umfassender als üblich nach wirklich sämtlicher Studienevidenz zu suchen und diese nach allen Regeln der Kunst auszuwerten (siehe Kasten). Anfang Juli tagt die Runde der WHO-Expertinnen erneut (11), um über Neuaufnahmen in die EML-Liste zu beraten, auch jene von Insulinanaloga. Auf jeden Fall liegt ihnen mit dem Cochrane Review zum Thema nun die bestmögliche Evidenzgrundlage für diese Diskussion vor. Und auch Anna hat nun für den nächsten Termin mit ihrer Ärztin eine gute Grundlage, um einen möglichen Umstieg zu besprechen.

info

Die Geschichte eines besonderen Reviews

Die Essential Medicines List der WHO
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) publiziert und aktualisiert regelmäßig ihre Liste der essenziellen Medikamente (Essential Medicines List – EML), die die notwendigsten Medikamente für die Versorgung der Bevölkerung auflistet (3). Diese ist weltweit gültig und insbesondere für wirtschaftlich schwächere Staaten eine Richtlinie, um die Kosten ihrer oft spärlich ausgestatteten Gesundheitssysteme im Griff zu behalten. Für jede neue Version gibt es ein Bewerbungsverfahren, um Medikamente in die Liste aufzunehmen.
Schon zum zweiten Mal stellte eine kanadische Gruppe 2019 auf Basis einer eigenen systematischen Übersichtsarbeit den Antrag, langwirkende Insulinanaloga in die EML-Liste aufzunehmen (4, 5). Allerdings kritisierten die Autoren des aktuellen Cochrane Reviews und andere Kommentatoren wesentliche Punkte dieses Antrags (6). Dabei ging es insbesondere um handwerkliche Fehler, sowie die unzureichende Beurteilung der Gesamtqualität der analysierten Studien in der Übersichtsarbeit, die dem Antrag zugrunde lag.

Was zeichnet diesen Review aus?
Als Konsequenz beschlossen die Cochrane-Forscher*innen, selbst einen systematischen Review zu erstellen. Er sollte die heutigen Qualitätsstandards an solche Publikationen möglichst noch übertreffen, insbesondere in diesen drei Punkten:

a) eine optimale Suchstrategie sollte möglichst vollständig alle Datenquellen für Studien mit langwirkenden Insulinanaloga bei Typ 1 Diabetes erfassen. Die Autoren aller eingeschlossenen Studien sowie von bei de Suche identifizierten noch nicht abgeschlossenen Studien wurden angeschrieben, um genauere Auskünfte gebeten und nach weiteren ihnen bekannten Studien befragt. Ihnen wurden zudem die Datenextraktionen der Cochrane-Autoren zur Kontrolle vorgelegt.

b) Die Autoren des Reviews nutzen das neue Cochrane-Tool ‚Risk of bias 2‘ (RoB 2), mit dem sich mögliche Quellen für Verzerrungen (Bias) in den Ergebnissen einzelner Studien identifizieren und beurteilen lassen (7). Eine adäquate Untersuchung solcher systematischen Fehler in den eingeschlossenen Studien gehört heute zum Standard. RoB 2 gewährleistet eine noch bessere Untersuchung des Biasrisikos als sein Vorgänger und soll demnächst in allen Cochrane Review zum Einsatz kommen. Um maximale Transparenz zu erzielen, publizierten die Cochrane-Autoren ihre Biasbewertungen auf einem öffentlich-zugänglichen Datenspeicher (8).

c) Alle bisherigen Reviews zum Thema beruhten auf regulären Publikationen, die ihre Ergebnisse meist sehr kondensiert auf wenigen Seiten zusammenfassen. Wichtige Daten zu Nebenwirkungen und methodischen Aspekten werden dabei oft spärlich oder gar nicht publiziert. Viel ausführlichere Informationen finden sich dagegen in den sogenannten Clinical Study Reports (CSR) – vollständige, oft mehrere Tausend Seiten umfassende Dokumente, die zur Zulassung von Medikamenten bei den Zulassungsbehörden eingereicht werden. Den Cochrane-Autoren gelang es, für fast alle eingeschlossenen Studien ihres Reviews die CSRs zu besorgen. Damit ist die Datenbasis des Cochrane Reviews bei weitem die beste, die bis dato in der Beurteilung der Therapie mit langwirkenden Insulinanaloga bei Typ 1 Diabetes zur Verfügung stand.

Quellen

(1) Mühlhauser I, Berger M. Diabetes education and insulin therapy: when will they ever learn? J Intern Med. 1993 Apr;233(4):321-6. [doi: 10.1111/j.1365-2796.1993.tb00679.x]


(2) Hemmingsen B, Metzendorf M, Richter B. (Ultra-)long-acting insulin analogues for people with type 1 diabetes mellitus. Cochrane Database of Systematic Reviews 2021, Issue 3. Art. No.: CD013498. [DOI: 10.1002/14651858.CD013498.pub2]


(3) The Selection and Use of Essential Medicines – TRS – 1021. WHO Technical Report Series – 1021. https://www.who.int/publications/i/item/9789241210300 (letzter Zugriff 11.04.2020)


(4) Tricco AC, Ashoor HM, Antony J, Beyene J, Veroniki AA, Isaranuwatchai W, et al. Safety, effectiveness, and cost effectiveness of long acting versus intermediate acting insulin for patients with type 1 diabetes: systematic review and network meta-analysis. BMJ 2014;349:g5459


(5) Tricco AC, Huda HM, Atntony J. et al Comparative efficacy and safety of Intermediate-acting, long-acting and biosimilar insulins for type 1 diabetes mellitus. www.who.int/selection_medicines/committees/expert/22/applications/s18.5_insulin-analogues.pdf?ua=1 (letzter Zugriff 11.04.2020)


(6) Public comments on ‘Application: Insulin analogues, including biosimilars – EML’ https://www.who.int/selection_medicines/committees/expert/22/applications/insulin_analogues/en/ (letzter Zugriff 11.04.2020)


(7) https://www.riskofbias.info/ (letzter Zugriff 11.04.2020)


(8) https://zenodo.org/record/4549440 (letzter Zugriff 11.04.2020)


(9) Ørskov Ipsen E, Hemmingsen B, Østrup Petersen L, Metzendorf M., Richter B. Definitions and reporting of hypoglycaemia in trials of long‐acting insulin analogues in people with type 1 diabetes mellitus [Protocol]. Cochrane Database of Systematic Reviews 2020, Issue Issue 12. Art. No.: CD013824. DOI: 10.1002/14651858.CD013824. [DOI: 10.1002/14651858.CD013824]

(10) Editorial. The bare essentials: ensuring affordable access to insulin. Lancet Diabetes & Endocrinology 2017, http://dx.doi.org/10.1016/S2213-8587(17)30038-4


(11) https://www.who.int/groups/expert-committee-on-selection-and-use-of-essential-medicines/23rd-expert-committee (letzter Zugriff 11.04.2020)

Text: Bernd Richter war von 2000 bis Ende 2020 Leiter der Cochrane Metabolic and Endocrine Disorders Group am Universitätsklinikum Düsseldorf und ist Koautor des vorgestellten Cochrane Reviews

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