kranker Kürbis

Über den Berg der Übelkeit: Medikamente zur Vorbeugung von Reisekrankheit

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Sommerzeit, Urlaubszeit! Doch vielen Menschen wird die Vorfreude auf die anstehende Reise im wahrsten Sinne des Wortes verübelt, denn sie leiden unter der Reisekrankheit (Kinetose). Ob Medikamente der Übelkeit in Auto, Schiff oder Flugzeug vorbeugen können, haben sich die Autor*innen eines Cochrane Reviews genauer angesehen.

Das Reisen steckt uns Menschen eigentlich im Blut: Schon unser Vorfahr Homo erectus brach vor 60.000 Jahren über das Meer zu neuen Ufern auf. Wir modernen Menschen (Homo sapiens) erfanden dann auch noch das Rad und wenig später (erdgeschichtlich gesehen) das Flugzeug. Leider kam unsere biologische Evolution dabei nicht ganz mit. Unser Gleichgewichtssinn ist noch immer der eines durch die Savanne trottenden Fußgängers, der von Wellengang und Serpentinenstraßen leicht durcheinander gebracht wird. Ein schwankender und sich ständig verändernder Untergrund liefert keine einheitlichen Informationen in Bezug auf Gleichgewicht, optische Wahrnehmung und Raumorientierung des eigenen Körpers. Weil das Gehirn die widersprüchlichen Signale nicht so recht deuten kann, reagiert es auf dem Umweg über den Hirnstamm mit Übelkeit und Brechreiz – so die gängige wissenschaftliche Erklärung [1].

Bereits im 5. Jahrhundert vor Christus beschrieb der griechische Arzt Hippocrates die Symptome der „Seekrankheit“. Tatsächlich leitet sich der Fachbegriff Nausea (Übelkeit) vom griechischen Wort für Schiff (naus) ab [1]. Aber nicht nur der Wellengang bei einer Schiffsfahrt kann eine Bewegungskrankheit (Kinetose) auslösen, ebenso Serpentinenstraßen bei Autofahrten, Turbulenzen im Flugzeug oder auch eine Fahrt mit dem Karussell. Selbst das Betrachten von Filmen oder Videospiele in 3D kann eine Kinetose auslösen.

Wenn das Erbrechen keine Erleichterung bringt

Neben dem Hauptsymptom Übelkeit kann es auch zu Erbrechen kommen. Dabei bringt das Erbrechen im Unterschied zu anderen Erkrankungen keine Erleichterung. Diese tritt erst ein, wenn man wieder festen Boden unter den Füßen hat. Hinzu kommen häufig Schwindel, Benommenheit und Kopfschmerzen und allgemeines Unwohlsein. Die Betroffenen sind oft bleich im Gesicht, ihnen bricht kalter Schweiß aus und Gerüche oder schlechte Luft machen ihnen zu schaffen.

Die Anfälligkeit für eine Kinetose oder Bewegungsunverträglichkeit und die Ausprägung der Symptome ist von Person zu Person extrem unterschiedlich, auch wenn grundsätzlich jede*r betroffen sein kann. Während bei manchen schon das geringste Schaukeln ausreicht, sind andere weitgehend Kinetose-resistent [1]. Wenn der Reiz wiederholt oder über einen längeren Zeitraum präsent ist, passt sich der Körper in der Regel an und die Reaktion auf den Reiz nimmt ab. Das ist allerdings kein kurzfristig erreichbarer Effekt.

Wenn man weiß, dass man besonders anfällig für die Reisekrankheit ist, kann man dieser mit Medikamenten vorbeugen. Zu diesem Zweck gibt es rezeptfreie Medikamente mit Wirkstoffen aus der Gruppe der Antihistaminika in Form von Tabletten, Zäpfchen, Kapseln, Sirup, Lösung zum Einnehmen oder Kaugummis. Diese müde machenden Antihistaminika der ersten Generation (wie Cinnarizin und Diphenhydramin) können aufgrund ihrer chemischen Struktur die Blut-Hirn-Schranke durchdringen und blockieren die Bindestellen von zwei Botenstoffen (neben Histamin auch Acetylcholin). Auf diese Weise behindern sie die Weiterleitung von Nervenimpulsen vom Gleichgewichtsorgan im Innenohr zum Brechzentrum. Bei Allergien wie Heuschnupfen werden dagegen nicht sedierende Antihistaminika der zweiten oder dritten Generation (wie Cetirizin, Loratadin) bevorzugt eingesetzt.

Die Studienlage zur Wirksamkeit und Verträglichkeit dieser bei Reisekrankheit weit verbreitet eingesetzten Arzneimittel zu sichten und zu bewerten war das Ziel eines im Jahr 2022 veröffentlichten Cochrane Reviews [2].

beenhere

Kennzahlen zum Review

– 9 randomisierte Studien mit 658 Teilnehmenden
– nur Studien zur Vorbeugung (im Gegensatz zur Behandlung) der Reisekrankheit
– in sechs Studien unter natürlichen Bedingungen (Reise) ausgelöst, sonst experimentell (z. B. rotierender Stuhl)
– Stand: Dezember 2021
– Einstufung der Evidenz nach GRADE: moderat bis sehr niedrig
– häufiges Problem in den Studien: selektive Berichterstattung

Die Ergebnisse im Einzelnen:

Antihistaminika im Vergleich zu einer Scheinbehandlung (Placebo)

Antihistaminika mit müde machenden Eigenschaften sind wahrscheinlich wirksamer als eine Scheinbehandlung. So entwickelten 40 von 100 anfälligen Personen, die vor einer Reise prophylaktisch ein Antihistaminikum einnahmen, keinerlei Anzeichen einer Kinetose im Vergleich zu 25 von 100, die ein Placebo bekamen (3 Studien mit 240 Teilnehmenden, moderate Vertrauenswürdigkeit der Evidenz).

Müdigkeit ist in den Antihistaminika-Gruppen wahrscheinlicher (66 von 100 im Vergleich zu 44 von 100), während kognitive Beeinträchtigungen oder verschwommenes Sehen in den beiden Behandlungsgruppen in etwa gleich häufig vorkommen (2 Studien, 190 Teilnehmende). Allerdings beruhen diese Aussagen zu unerwünschten Wirkungen auf Evidenz von niedriger Vertrauenswürdigkeit.

Antihistaminika im Vergleich zu Scopolamin

Interessant ist auch die Frage, wie Antihistaminika im Vergleich zu anderen Mitteln gegen Reisekrankheit abschneiden. Als rezeptpflichtige Mittel gibt es Arzneipflaster mit dem Wirkstoff Scopolamin. Bei diesem sogenannten transdermalen therapeutischen System gelangt der Wirkstoff über einen längeren Zeitraum kontinuierlich durch die Haut direkt ins Blut. Das transdermale Pflaster wird fünf bis sechs Stunden oder am Abend vor dem Reiseantritt hinter das Ohr geklebt.

Scopolamin, ein Alkaloid aus der Tollkirsche, blockiert die Wirkung des Nervenbotenstoffs Acetylcholin und soll so die Weiterleitung von Nervenimpulsen aus dem Gleichgewichtsorgan im Innenohr zum Brechzentrum hemmen. Der Wirkstoff macht schläfrig und kann die Aufmerksamkeit und Reaktionsfähigkeit verringern sowie den Speichelfluss hemmen, so dass sich Mund und Kehle trocken anfühlen. Insbesondere bei älteren Menschen können auch Gedächtnisstörungen und Verwirrtheitszustände auftreten oder das Wasserlassen erschwert sein (insbesondere bei Männern mit vergrößerter Prostata) [4].

Dass Scopolamin-Pflaster einer Kinetose besser vorbeugen als Placebo-Pflaster ergab die gemeinsame statistische Auswertung von fünf Studien bereits in einem Cochrane Review aus dem Jahr 2011 [3]. In den Studien, in denen Scopolamin jeweils mit verschiedenen Antihistaminika (Meclozin, Promethazin, Dimenhydrinat, Cinnarizin) verglichen wurde, waren die Ergebnisse uneinheitlich. Einzelne Studien deuten jedoch auf eine Überlegenheit von Scopolamin hin.

Studien: alt und klein

Auch die Autor*innen des aktuellen Cochrane Reviews finden (Stand: Dezember 2021) für den Vergleich der Wirksamkeit von Antihistaminika und Scopolamin zur Vorbeugung von Reisekrankheit keine aussagekräftige Evidenz. Alle Studien zu diesem Vergleich wurden den 80er und 90er Jahren durchgeführt. Sie schlossen nur wenige Teilnehmende ein und haben methodische Mängel, so dass die Vertrauenswürdigkeit der Evidenz sehr niedrig ist und keine Schlussfolgerungen erlaubt.

Scopolamin-Pflaster kommen vor allem bei länger andauernden Schiffsreisen in Frage, da das Pflaster den Wirkstoff kontinuierliche bis zu drei Tage durch die Haut ins Blut abgibt. Nach dem Aufkleben und Entfernen des Pflasters sollte man sich die Hände waschen, damit Wirkstoffreste nicht in die Augen gelangen und die Pupille erweitern. Geschieht dies doch, so sieht man für einige Zeit nur noch verschwommen und ist lichtempfindlich [4].

Antihistaminika im Vergleich zu anderen Wirkstoffen gegen Übelkeit und Erbrechen

Für diesen Vergleich fand das Cochrane-Team lediglich eine Studie mit 42 Studenten einer amerikanischen Universität, die angaben, sehr anfällig für Reisekrankheit zu sein. Die Symptome wurden experimentell durch einen rotierenden Stuhl ausgelöst. Verglichen wurde das Antihistaminikum Dimenhydrinat mit Ondansetron. Ondansetron ist ein Wirkstoff, der vorwiegend im Rahmen einer Krebsbehandlung eingesetzt wird. Er ist ein Gegenspieler des Nervenbotenstoffs Serotonin und unterdrückt die Ausschüttung von Serotonin durch Zellen im Darm, die durch Strahlen- oder Chemotherapie geschädigt werden.

Unter diesen experimentellen Bedingungen wurde zwischen den beiden Behandlungen kein Unterschied festgestellt. Die Vertrauenswürdigkeit der Evidenz ist allerdings niedrig. Vergleiche mit anderen Wirkstoffen fehlen gänzlich, beispielsweise mit Ingwer, der in einzelnen Studien bei Übelkeit in der Schwangerschaft [5] und auch bei Reiseübelkeit untersucht wurde [1].

Und reisekranke Kinder?

Kinder unter zwei Jahren leiden selten unter Reiseübelkeit. Ältere Kinder sind jedoch häufig von der Reisekrankheit betroffen, mit einem Peak bei neun Jahren. Die Review-Autor*innen fanden jedoch keine Studien speziell für Kinder.

Grundsätzlich können Kinder ab sechs Jahren mit Antihistaminika-haltigen Tabletten oder Dragees zur Vorbeugung von Reiseübelkeit behandelt werden, sie reagieren allerdings empfindlicher auf die Mittel. Sie werden schneller müde und schläfrig – und das für längere Zeit. Insbesondere bei jüngeren Kindern bewirken sie aber manchmal auch das Gegenteil: etwa Unruhe und Erregung und unerwünschte Wirkungen wie Verstopfung oder trockenen Mund [6].

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Was hilft noch gegen Übelkeit auf Reisen?

Es gibt eine Vielzahl von Tipps und Tricks gegen die Reisekrankheit, die meisten davon sind allerdings nur mangelhaft wissenschaftlich belegt. Was davon zumindest teilweise durch Studien abgesichert ist, fast der Evidenz-Service UptoDate [1] wie folgt zusammen:

● Blick auf den Horizont oder ein entferntes, unbewegliches Objekt richten.
● Nicht lesen oder auf einen Bildschirm zu schauen.
● einen Sitzplatz wählen, an dem man sich möglichst wenig bewegt und/oder gute Sicht hat. In einem Boot beispielsweise Kabinen im Unterdeck und in der Mitte des Schiffes nehmen. Im Auto am besten den Vordersitz. Im Flugzeug wird ein Sitz über der Vorderkante der Tragfläche empfohlen, bei Reisen mit dem Zug oder Bus nach vorne gerichtete Sitze.
● Selber Autofahren ist besser als Beifahrer zu sein. Als Beifahrer ist es besser, auf dem Vordersitz zu sitzen und den Blick auf die Straße zu richten, so als würde man das Auto steuern.

Fazit

Obwohl Antihistaminika als Mittel der Wahl zur Vorbeugung von Reisekrankheit bei anfälligen Personen gelten, ist die vorliegende Evidenz nicht optimal. Dass die Mittel besser als Placebo wirken, erreichte nach den strengen GRADE-Kriterien immerhin die Evidenz-Kategorie „moderat“, was den weit verbreiteten Einsatz durchaus stützt.

Was aber fehlt, sind Vergleiche verschiedener Mittel, die für eine Einordnung verschiedener Therapieoptionen notwendig wären. Hierfür gibt es nur Evidenz, deren Vertrauenswürdigkeit niedrig bis sehr niedrig ist. In einer idealen (Forschungs-) Welt müsste für den Endpunkt von moderater Vertrauenswürdigkeit mehr Evidenz zur Bestätigung generiert werden. Denn erst eine hohe Vertrauenswürdigkeit erlaubt weitgehend sichere Schlussfolgerungen. Die geringe Vertrauenswürdigkeit der Evidenz für die anderen Endpunkte wie dem Auftreten unerwünschter Wirkungen bedeutet dagegen, dass weitere Studien die derzeitigen Ergebnisse auch komplett ändern könnten.

Die Cochrane-Autor*innen hoffen, mit ihrer Übersichtsarbeit weitere Forschung anzustoßen. Das Thema ist nicht nur in Freizeit und Tourismus wichtig, sondern auch für bestimmte Berufsgruppen. Dazu zählen Astronauten (50% leiden in den ersten Tagen einer Raumfahrmission unter der „Weltraumkrankheit“), Hubschrauberpiloten, Kampfjetpiloten oder Marinesoldaten. Bei diesen Berufsgruppen kommen müde machende oder die psychomotorische Leistungsfähigkeit einschränkende Wirkstoffe kaum in Frage.


Text: Dr. Birgit Schindler

Quellen

[1] UptoDate: Priesol A. Motion sickness. Literature review current through: May 2023. This topic last updated: Jun 23, 2023.

[2] Karrim N, Byrne R, Magula N, Saman Y. Antihistamines for motion sickness. Cochrane Database of Systematic Reviews 2022, Issue 10. Art. No.: CD012715. DOI: 10.1002/14651858.CD012715.pub2.

[3] Spinks A, Wasiak J. Scopolamine (hyoscine) for preventing and treating motion sickness. Cochrane Database of Systematic Reviews 2011, Issue 6. Art. No.: CD002851. DOI: 10.1002/14651858.CD002851.pub4.

[4] Fachinformation Scopoderm TTS, Stand der Information: April 2022.

[5] Matthews A, Haas DM, O’Mathúna DP, Dowswell T. Interventions for nausea and vomiting in early pregnancy. Cochrane Database of Systematic Reviews 2015, Issue 9. Art. No.: CD007575. DOI: 10.1002/14651858.CD007575.pub4

[6] Fachinformation Reisetabletten-ratiopharm®, Stand: Dezember 2020.

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