Interessenkonflikte in der Forschung: Marionette am Schreibtisch

Vorsicht, Interessenkonflikte! Wie Hersteller Einfluss auf Evidenz nehmen.

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Wenn Entscheidungen in Gesundheitsfragen auf wissenschaftlicher Evidenz basieren sollen, dann muss diese Evidenz auch den objektiven Stand der Wissenschaft wiedergeben. Diese Objektivität gerät in Gefahr, wenn Hersteller den wissenschaftlichen Diskurs beeinflussen. Ein aktuelles Beispiel für solche Interessenkonflikte liefert die Debatte um einen Cochrane Review.

Rauchen ist lebensgefährlich – darüber gibt es in Medizin und Wissenschaft längst keinen Zweifel mehr. Doch das war nicht immer so. In den 1940er Jahren bewarb die Zigarettenindustrie ihre Produkte noch mit Aussagen wie „Die meisten Doktoren rauchen Camels!“ als harmlos oder gar gesundheitsförderlich. Als immer deutlicher wurde, dass Tabakrauch im großen Stil für Lungenkrebs und andere Krankheiten verantwortlich war, änderte „Big Tobacco“ die Strategie. Über Jahrzehnte hinweg versuchte man mit Hilfe von Lobbyisten und „Spin Doctors“, Zweifel an dieser Erkenntnis zu säen und eine Regulierung zu verhindern. Die dafür genutzten Methoden sind gut dokumentiert. Sie lieferten sogar Hollywood guten Stoff, etwa für den Thriller „Insider“ oder die gar nicht so realitätsferne Satire „Thank You for Smoking“.

Neben Werbekampagnen gehörte auch die gezielte Beeinflussung von Forschung und Wissenschaft zu den Mitteln der Image-Rettung für den Glimmstängel. So wurden unliebsame Ergebnisse unabhängiger Forscher*innen durch industriefinanzierte „Gegenstudien“ in Frage gestellt, Wissenschaftler*innen unter der Hand für tabakfreundliche Statements bezahlt oder eigens Wissenschaftsjournale gegründet, um Tabakfreunden ein Forum zu bieten.

Für eine evidenzbasierte Gesundheitsversorgung sind solche Verzerrungen der verfügbaren Evidenz eine große Gefahr. Denn wird dieses verzerrte Bild für Therapieentscheidungen herangezogen, so können die Auswirkungen auf die Versorgung der Patient*innen dramatisch sein. Allerdings sind solche Versuche einer Einflussnahme, gerade wenn sie geschickt gemacht sind, gar nicht leicht zu entlarven. Denn die Grenze zwischen berechtigter, objektiver Kritik und gezielter Manipulation des Diskurses ist fließend.

Integrität von Forschung – auch für Cochrane ein großes Thema

Die Versuche, die Studienlage beziehungsweise deren Wahrnehmung bei Fachleuten und Öffentlichkeit in ihrem Sinne zu manipulieren, ist nicht auf die Tabakindustrie vergangener Jahrzehnte beschränkt. Das zeigt ein aktueller Beitrag von Lisa Bero und Adrian Traeger in der renommierten Wissenschaftszeitschrift JAMA Internal Medicine. Bero ist Expertin für die Integrität medizinischer Forschung am Center for Bioethics and Humanities der University of Colorado in Denver und auf diesem Gebiet schon seit vielen Jahren für Cochrane aktiv. Traeger forscht an der University of Sidney und erlebte im vergangenen Jahr als Erstautor des Cochrane Reviews „Rückenmarkstimulation zur Behandlung von Schmerzen im unteren Rücken“ am eigenen Leib, mit welchen Mitteln Hersteller Zweifel an unliebsamen Forschungsergebnissen säen.

Der Diskurs zur Neurostimulation bei chronischen Kreuzschmerzen

Um was geht es? Menschen mit chronischen, anderweitig nicht in den Griff zu bekommenden Rückenschmerzen erhalten seit einigen Jahren immer häufiger Geräte zur Rückenmarkstimulation. Dabei wird in einem chirurgischen Eingriff ein an einen Herzschrittmacher erinnernder „Neurostimulator“ unter die Haut platziert. Er stimuliert über dünne, in den Rückenmarkskanal implantierte Drähte (Elektroden) mit geringen elektrischen Impulsen die Nerven in bestimmten Bereichen des Rückenmarks. Dies soll den Rückenschmerz lindern. Die Intensität und Frequenz dieser Impulse lässt sich drahtlos von außen steuern.

Was sagt die unabhängige Evidenz?

In den letzten Jahren haben mehrere unabhängige Studien die Wirksamkeit der Rückenmarkstimulation zur Schmerzbehandlung in Frage gestellt. Ein Cochrane-Review von 2023, fand keinen Nutzen bei Kreuzschmerzen, aber Risiken (siehe Kasten).

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Der Cochrane Review zur Rückenmarkstimulation bei chronischen Kreuzschmerzen

Der Review in Kürze
13 Studien (RCTs und Cross-Over-Studien) mit 699 Teilnehmenden
Durchschnittliche Dauer der Kreuzschmerzen der Teilnehmenden: 5 bis 12 Jahre
Nachbeobachtung: Meist wenige Wochen; maximal 6 Monate
Stand der Evidenz: Juni 2022

Gliederpuppe mit Kreuzschmerzen

In keiner der Studien wurde für den Vergleich Rückenmarkstimulation versus Placebo‐Behandlung (Schein‐Behandlung) ein Zeitraum länger als 6 Monate erfasst, d.h. die langfristigen Auswirkungen sind unerforscht. In den meisten Studien wurden die Ergebnisse weniger als einen Monat nach Behandlungsbeginn erhoben, erlauben damit also keine Aussagen über die entscheidende Frage der mittel- bis langfristigen Wirksamkeit.

Für die Wirkung nach sechs Monaten ergab die einzige zu diesem Nachbeobachtungszeitraum verfügbare Studie im Vergleich zu einer Scheinbehandlung keinen Nutzen der Rückenmarkstimulation hinsichtlich der Schmerzintensität (50 Teilnehmende; moderate Vertrauenswürdigkeit der Evidenz). Teilnehmende, die eine Placebo‐Behandlung erhalten hatten, gaben ihre Schmerzintensität auf einer Schmerzskala, die von 0 (keine Schmerzen) bis 100 reichte, durchschnittlich mit 61 Punkten an. Mit Rückenmarkstimulation war dieser Wert rund 4 Punkte besser. Das Konfidenzintervall reicht dabei von 8,2 Punkte besser bis 0,2 Punkte schlechter, es handelt sich also um einen statistisch nicht signifikanten Unterschied.

Auch hinsichtlich der körperlichen Funktionsfähigkeit ergab sich nach sechs Monaten im Vergleich zu einer Placebo‐Behandlung kein Nutzen der Rückenmarkstimulation. Die Teilnehmenden, die eine Placebo‐Behandlung erhalten hatten, gaben ihre Funktionsfähigkeit auf einer Skala von 0 (keine Einschränkungen) bis 100 nach sechs Monaten mit 35,4 Punkten an, während die Teilnehmenden, die eine Rückenmarkstimulation erhalten hatten, ihre Funktionsfähigkeit um 1,3 Punkte besser bewerteten (3,9 Punkte besser bis 1,3 Punkte schlechter, es handelt sich ebenfalls um einen statistisch nicht signifikanten Unterschied).

Dem stehen die Risiken des chirurgischen Eingriffs gegenüber. Einige Studien berichteten über schwerwiegende unerwünschte Ereignisse bei den Teilnehmenden mit Rückenmarkstimulation, die einen erneuten operativen Eingriff erforderlich machten, darunter Infektionen, Schäden an der Wirbelsäule oder den Nerven, Probleme beim Wasserlassen und die Verlagerung winziger Gerätebestandteile (sogenannte „Bleimigration“).

„Gegen-Evidenz“

Industriefinanzierte Kritiker*innen reagierten schnell. Dieser Cochrane Review wurde alleine in 18 Erwiderungen kritisch hinterfragt, deren Autor*innen nach Einschätzung von Traeger und Bero sämtlich enge finanzielle Verflechtungen mit der Neurostimulationsindustrie haben. Das Beispiel veranschaulicht, auf welche Weise Herstellerinteressen den wissenschaftlichen Diskurs und in der Folge die Versorgung von Patient*innen beeinflussen. Konkret identifizieren Bero und Traeger in ihrem Artikel eine Reihe von Strategien, mit denen die Industrie versuche, die Wahrnehmung der Evidenz zur Neurostimulation „ins rechte Licht“ zu rücken:

Kontrolle des wissenschaftlichen Diskurses

Industriegetriebene Kritik an unabhängigen Studien missachtet oft die Normen eines ehrlichen wissenschaftlichen Diskurses. Statt wie üblich Kritik in der Zeitschrift der Originalstudie zu publizieren, erscheint sie häufig in industrienahen Journalen, wo der Diskurs von industriefinanzierten Herausgeber*innen beeinflusst wird. Kommentare unabhängiger Forscher*innen werden dann oft hinter Bezahlschranken versteckt, schreiben Bero und Traeger: „Bei einer Kritik an unserem Cochrane Review beispielsweise durften wir nur begrenzt und hinter einer Paywall antworten, während die industriefinanzierte Kritik an unserem Review frei zugänglich war.“ Anerkannte Kanäle, die eine Deklaration von Interessenkonflikten verlangen, würden für den Diskurs gemieden.

Glaubwürdigkeit unabhängiger Wissenschaftler anzweifeln

Eine weitere Strategie industrieller Akteure, die Wissenschaft zu diskreditieren, bestehe darin, die Glaubwürdigkeit unliebsamer Forschender anzugreifen, anstatt sich sachlich mit der Forschung selbst zu beschäftigen. „Unabhängige Forscher im Bereich der Rückenmarkstimulation, einschließlich unseres Teams, wurden der Inkompetenz, Naivität oder Befangenheit bezichtigt. Kolleg*innen wurden aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer Versicherungsgesellschaft eines Interessenkonflikts beschuldigt. Die Glaubwürdigkeit unseres Review-Teams wurde auch in Frage gestellt, weil ein Autor Bücher über durch Behandlungen verursachte Schäden geschrieben hatte.“ Diese Art von unsachlicher Kritik lenkt von der eigentlichen Forschung ab, indem sie suggeriert, auch die Autor*innen der „Gegenseite“ seien voreingenommen und ihre Kompetenz in Frage stellt.

Real-World-Daten über randomisiert kontrollierte Studien stellen

Einer der Kritikpunkte am Cochrane Review lautet, dass die Autor*innen Studien ausschlossen, die nicht die vordefinierten Einschlusskriterien erfüllten. Wirksamkeit und Sicherheit seien bereits etabliert, daher solle der Fokus der Forschung auf „Real-World-Studien“ liegen statt auf placebokontrollierten Studien (Studien mit einer Kontrollgruppe, bei der der Neurostimulator eingeschaltet wird, aber dann keine Stimuli abgibt), so die Kritiker. Gemeint sind damit unverblindete Studien, die verschiedene Stimulationsmuster bei Patienten vergleichen, die bereits einen Rückenmarksstimulator implantiert haben, oder die Rückenmarkstimulation mit anderen Behandlungen wie einer Rücken-OP vergleichen. Diese Studiendesigns sind jedoch anfällig für Performance Bias und könnten – in Ermangelung von Wirksamkeitsnachweisen für Intervention wie für Kontrolle – unwirksame oder schädliche Behandlungen miteinander vergleichen. Hier bestehe nach Ansicht von Bero und Traeger die Gefahr, dass Real-World-Studien in die Irre führen. Sie weisen darauf hin, dass man erst einmal die grundsätzliche Wirksamkeit einer Behandlung in methodisch hochwertigen RCTs belegen müsse, bevor man Real-World-Studien durchführt.

Einzelheiten kritisieren und dabei die methodische Qualität als Ganzes ignorieren

Industriefinanzierte Kritiker versuchten, eine im Review berücksichtigte, placebokontrollierte Studie zur Rückenmarksstimulation zu diskreditieren, indem sie behaupteten, die Einstellungen der Stimulation während der Studie seien falsch gewesen. Ein weiterer Vorwurf war, dass die Studie den Betroffenen keine Eigenkontrolle über ihre Stimulator-Einstellungen gab, um die Verblindung zu gewährleisten. Dabei verwendeten die Forscher*innen die vom Hersteller empfohlenen Stimulationsparameter und auch die 6-Monats-Folgestudie, in der die Patienten die Kontrolle über ihre Stimulationsparameter übernahmen, zeigte keinen Nutzen.

Entscheidend ist jedoch: Die Kritikpunkte an der Studie konzentrierten sich auf die Stimulationsparameter, ignorieren aber die Vorteile der insgesamt hochwertigen Methodik, die darauf ausgerichtet war, Verzerrungen der Ergebnisse zu minimieren. Tatsächlich beinhaltet das optimale Design einer Studie (oder eines systematischen Reviews) oft Kompromisse, die sich für diese Strategie ausnutzen lassen.

Möglichst viel eigene Forschung veröffentlichen

Diese Strategie ist altbekannt und umfassend belegt. Durch die Veröffentlichung zahlreicher industriefreundlicher Studien in der Wissenschaftsliteratur werden Unternehmensinteressen als wissenschaftlich fundiert präsentiert und lenken von anderslautenden Forschungsergebnissen ab. So dient von Interessenkonflikten belastete Forschung oft als vermeintliche Widerlegung unliebsamer Ergebnisse.

Gleichsetzung einer behördlichen Zertifizierung mit Wirksamkeit und Sicherheit

Ein häufig gehörtes Argument lautet, dass durch die Zulassung von Rückenmarkstimulatoren durch die US-amerikanische Arzneimittelbehörde (FDA) und deren langjährige Anwendung die Wirksamkeit und Sicherheit belegt sei. Das ist jedoch nicht der Fall. Denn neue medizinische Geräte müssen lediglich „substanziell äquivalent“ zu einem bereits auf dem Markt befindlichen Produkt sein, selbst wenn das frühere Produkt ungetestet ist. So können durchaus auch unwirksame Geräte eine Zulassung erhalten.

In Europa ist die Zertifizierung von Hochrisikomedizinprodukten wie Implantaten derzeit sogar noch einfacher. Das Zertifizierungssystem ist dezentral und privatwirtschaftlich organisiert, wobei Hersteller die Prüfstellen selbst finanzieren und auswählen. Private Firmen wie Dekra oder TÜV vergeben dann das CE-Zeichen. Doch Nutzen-Schaden-Bewertungen dieser Produkte sind – sofern überhaupt vorhanden – nicht öffentlich einsehbar.

Appell: Unabhängige Wissenschaft gegen Industrieinteressen verteidigen

Das Beispiel der Reaktionen auf den Cochrane Review zur Rückenmarkstimulation zeige beispielhaft, zu welchen Mitteln manche Hersteller greifen, um unabhängige Wissenschaft zu unterminieren, so Bero und Traeger. Neben den beschriebenen Taktiken in akademischen Publikationen würden unabhängige Forschende auch in den Medien angegriffen, ihnen mit rechtlichen Klagen gedroht oder versucht, sie aus ihren Institutionen auszuschließen oder zu sanktionieren.

Das Problem der mehr oder minder unterschwelligen Beeinflussung von Forschung, Forschenden und „wahrgenommener Evidenz“ ist nicht neu – siehe die fast hundertjährige Geschichte der Tabakforschung. Doch wie kann man diesem gefährlichen Einfluss effektiv entgegenwirken? Ein wichtiger Schritt wäre Bero und Traeger zufolge, finanzielle Interessenkonflikte aus der Forschung einzudämmen und industriegetriebene Kampagnen zu erschweren. So gebe es schon jetzt Zeitschriften, die sich weigerten, industriefinanzierte Arbeiten zu veröffentlichen. Akademische Einrichtungen sollten von Rufmordkampagnen betroffene Forscher öffentlich verteidigen und ihnen gegebenenfalls rechtliche Unterstützung anbieten. Berufsorganisationen sollten keine Industriefinanzierung annehmen und finanzielle Interessenkonflikte ihrer Mitglieder konsequent offenlegen. Nicht zuletzt müsse man in der Öffentlichkeit mehr Bewusstsein für die industriellen Angriffe auf unabhängige Wissenschaft schaffen.

Wie schwer der Kampf gegen solche Angriffe ist, zeigt das Beispiel „Big Tobacco“. Die Beeinflussung der Wissenschaft zu Tabakprodukten ist noch längst nicht Geschichte . Die Konzerne haben inzwischen den Markt der E-Zigaretten als neue zukunftsfähige Geschäftsstrategie für sich entdeckt. Diese werden von Industrieseite „als gesunde Alternative zum Rauchen“ und modernes Lifestyle-Produkt verharmlost. Dabei enthält auch der Dampf von E-Zigaretten toxische Substanzen, die angesichts einer unüberschaubaren Zahl von Aromen und sonstigen Bestandteilen schwer einzugrenzen sind. Die Langzeitfolgen der als Dampf eingeatmeten Stoffe sind noch weitgehend unbekannt.

Die Wissenschaft steht hier also an einem ähnlichen Punkt, wie vor einem halben Jahrhundert in der Causa Tabakrauch. Bleibt zu hoffen, dass sie sich diesmal besser gegen interessengeleitete Beeinflussung wehren kann.


Text: Birgit Schindler & Georg Rüschemeyer

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