In einer Serie auf Instagram haben Mitarbeiter*innen von Cochrane Deutschland in den letzten Monaten Reviews vorgestellt, die ihnen besonders in Erinnerung geblieben sind. Der „Lieblingsreview“ von Angelika Eisele-Metzger hat viel mit ihrer Erfahrung bei der Geburt ihrer Tochter zu tun. Zudem spielte er eine zentrale Rolle in dem medialen Drama, dass sich 2020 um das Wehen-Medikament Cytotec entspann. Und weil 90 Sekunden auf Instagram dafür nicht reichen, erzählt sie hier die ganze Geschichte.
Seit Stunden war ich nun in diesem Zimmer in einem großen süddeutschen Krankenhaus, das sich ironischerweise Wehenzimmer nannte. Doch die Wehen ließen auf sich warten. Am Vortag war meine Fruchtblase geplatzt, 2 Tage vor dem errechneten Geburtstermin. Seither war ich Kliniktreppen auf- und abgestiegen, auf einem Sitzball herumgehopst und hatte noch weitere mehr oder weniger einleuchtende Strategien zur Wehenanregung ausprobiert, leider ohne Erfolg.
Schließlich riet die diensthabende Ärztin zur Einleitung der Geburt. Denn warte man nach einem Blasensprung zu lange, erhöhe sich das Risiko für das Kind, Infektionen zu bekommen. Zur Einleitung empfahl die Ärztin ein Medikament mit dem Handelsnamen Cytotec und dem Wirkstoff Misoprostol. Sie erklärte mir auch gleich den kleinen Haken daran: Cytotec sei eigentlich nur als Magenschutzmittel und nicht zur Geburtseinleitung zugelassen. Der Einsatz zur Geburtseinleitung sei also ein sogenannter Off-Label-Use, was in der Medizin aber nichts Ungewöhnliches sei. Man hätte in der Klinik gute Erfahrungen mit dem Medikament gemacht und verwende es standardmäßig zur Geburtseinleitung.
Cytotec gerät in Verruf
Das fand ich überzeugend, unterschrieb die Einverständniserklärung und erhielt die erste Dosis Misoprostol in Form eines Bruchstücks einer kleinen Cytotec-Tablette. Und tatsächlich: Gerade als einige Stunden später die Hebamme darüber sinnierte, ob es nicht besser wäre, direkt eine weitere Dosis einzunehmen, stellten sich relativ schlagartig Wehen ein, die schnell stärker wurden. Stunden später hielt ich – erschöpft aber glücklich – mein Kind im Arm. Alles war gut gegangen, die Freude war groß und die Einleitung bald vergessen.
Doch wenige Monate später, im Februar 2020, las ich erstaunt die Schlagzeilen in der Süddeutschen Zeitung (SZ): „Ärzte verwenden umstrittenes Medikament in der Geburtshilfe“ – die Rede war von Cytotec. Der Vorwurf: Zahlreiche Kliniken in Deutschland würden ein nicht zugelassenes Medikament zur Geburtseinleitung verwenden, vor dem Gesundheitsbehörden und Expert*innen warnen, weil es starke Nebenwirkungen haben könne. Es sei im Zusammenhang mit dem Medikament zu schweren Komplikationen wie Gebärmutterrissen bei Müttern und Hirnschäden infolge von Sauerstoffmangel bei Kindern gekommen. Kurz darauf die nächste Schlagzeile. Der Titel eines Experten-Interviews, ebenfalls in der SZ: „Cytotec hat zahlreiche mütterliche Todesfälle verursacht“. Und tags darauf noch Berichte von drei Frauen, „die bei der Entbindung durch die Hölle gingen“.
Ich war verunsichert: Meine Wehen waren tatsächlich sofort sehr heftig gewesen. Schon kurz nach ihrem Einsetzen hatte ich nach einer PDA (Periduralanästhesie, eine regionale Betäubung zur Schmerzlinderung) verlangt und diese auch bekommen – wäre das vermeidbar gewesen? Hatte ich durch meine Entscheidung für ein nicht zugelassenes Medikament mich und mein Kind einer Gefahr ausgesetzt?
Keine Evidenz? Im Gegenteil!
Bereits kurze Zeit später häuften sich verschiedene Reaktionen auf die SZ-Artikel. In einer Stellungnahme eines Zusammenschlusses verschiedener Fachgesellschaften und Arbeitsgemeinschaften, darunter der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e.V., hieß es: „Die Behauptung, dass sich die Ärzte hierbei lediglich auf ‚Erfahrungswerte und Anwendungsbeobachtungen stützen‘, ist falsch. Es gibt keinen Wirkstoff zur Geburtseinleitung, der ähnlich gut in Studien untersucht wurde!“ Weiter wurde darauf hingewiesen, dass Kinder und Schwangere häufig von Zulassungsstudien ausgeschlossen würden. Deswegen würden in der Geburtshilfe und Kinderheilkunde häufig Medikamente im Off-Label-Use angewandt. Ich war wieder einigermaßen beruhigt.
75 Studien, 14.000 Teilnehmerinnen
Dass es durchaus eine ganze Menge wissenschaftliche Evidenz zum Einsatz von Misoprostol für die Geburtseinleitung gibt, betonte auch eine Pressemitteilung von Cochrane Deutschland zum Thema sowie ein Deutschlandfunk-Interview dazu mit Jörg Meerpohl, dem wissenschaftlichen Vorstand von Cochrane Deutschland. Beide bezogen sich auf einen Cochrane Review aus dem Jahr 2014, der Ergebnisse von 75 randomisiert-kontrollierten Studien mit insgesamt fast 14.000 Teilnehmerinnen zusammenfasst. In den eingeschossenen Studien wurde oral verabreichtes Misoprostol (der Wirkstoff in Cytotec) mit verschiedenen alternativen Wirkstoffen und Darreichungsformen (z.B. vaginal verabreichtes Dinoproston, intravenös verabreichtes Oxytocin oder vaginal verabreichtes Misoprostol) sowie mit einem Placebo verglichen.
Die Autor*innen kommen zu dem Schluss, dass oral verabreichtes Misoprostol die Geburt wirksamer einleitet als ein Placebo und dabei ähnlich wirksam ist wie andere Methoden. Auffällig in Studien zu Misoprostol ist jedoch die große Variationsbreite der Dosierungen. Gravierende Nebenwirkungen traten kaum auf, deswegen kann der Review hier inhaltlich nicht viel beitragen. Um extrem seltene, schwere Nebenwirkungen zu identifizieren, wie sie die Berichterstattung in der SZ beschrieb, bräuchte man den Autor*innen zufolge noch weitere Studien mit deutlich mehr Teilnehmerinnen – angesichts der ohnehin schon umfangreichen Evidenz ein wenig realistisches Ziel.
Vom Skandal bleibt wenig übrig
Ich war froh, auf diese Informationen gestoßen zu sein. Cochrane Reviews kannte ich aus meinem Studium als methodisch hochwertig und nach strengen Richtlinien erstellte Übersichtsarbeiten. Ich schloss für mich, dass das Vorgehen vieler deutscher Kliniken bei der Einleitung von Geburten wohl doch nicht so skandalös war, wie es die Berichte in der SZ suggerierten. Spannend blieb jedoch ein weiterer Kritikpunkt aus der Süddeutschen: Angeblich würden Ärzt*innen häufig zu hohe Dosen Misoprostol zur Geburtseinleitung verabreichen. Angaben zu einer optimalen Dosierung gebe es nicht, die Weltgesundheitsorganisation empfehle 25 Mikrogramm, verabreicht würden aber teilweise deutlich mehr. Ich selber hatte in der Klinik ein Bruchstück einer Cytotec-Tablette bekommen, die standardmäßig 200 Mikrogramm Misoprostol enthält. Wie viel es genau war, daran kann ich mich nicht mehr erinnern.
Die Evidenzbasis wird noch besser
Seit drei Jahren arbeite ich inzwischen bei Cochrane Deutschland. Dadurch habe ich das Glück, dadurch recht gut auf dem Laufenden über aktuelle Cochrane Reviews zu sein. So kam es, dass mir knapp eineinhalb Jahre nach den kritischen SZ-Artikeln im Titel eines Cochrane Reviews wiederum das Wort „Misoprostol“ ins Auge sprang. Anders als sein Vorgänger von 2014 untersuchte dieser neue Cochrane Review gezielt die Wirkung von Misoprostol in niedrigen Dosen von maximal 50 Mikrogramm – höhere Dosen seien anerkanntermaßen zu risikoreich, so die Begründung. Trotz dieser Einschränkung konnten die Autor*innen insgesamt 61 randomisiert-kontrollierte Studien mit mehr als 20.000 Teilnehmerinnen auswerten.
Sie schlussfolgern, dass niedrig dosiertes, oral verabreichtes Misoprostol wahrscheinlich viele Vorteile gegenüber anderen Methoden der Geburtseinleitung habe. Auch wenn die optimale Dosis aufgrund der aktuell vorliegenden Studienergebnisse noch nicht abschließend geklärt ist, kommen die Autor*innen zu dem Schluss, dass 25 Mikrogramm als anfängliche Dosis wahrscheinlich eine gute Balance zwischen Sicherheit und Wirksamkeit zur Geburtseinleitung bieten. Zum Vergleich: Eine Tablette Cytotec enthält 200 Mikrogramm Misoprostol, das Achtfache der in dem Cochrane Review empfohlenen Dosis.
Misoprostol zur Geburtseinleitung – die Gefahr liegt in der Dosis
Die Vermutung liegt nahe, dass die in dem SZ-Artikel erwähnten schweren Nebenwirkungen weniger auf die Verwendung des Wirkstoffs Misoprostol an sich, als auf vermeidbare Fälle von Überdosierungen zurückzuführen waren.
Solche Fälle könnten auch mit der fehlenden Zulassung von Cytotec als Wehenmittel zu tun haben. Denn dadurch fehlten die für zugelassene Arzneien obligatorischen Dosisfindungsstudien und standardisierte Vorgaben für die Anwender sowie die Regulierung durch Behörden. All das könnte in der Praxis zu einer größeren Variabilität bei der Dosierung und über die Jahre zu Fällen von riskanten Dosierungen geführt haben.
Cytotec ist weg. Dabei wird es noch gebraucht.
Wie ging es nun mit Cytotec weiter? Mit dem Medikament Angusta steht seit 2021 ein Medikament mit 25 Mikrogramm Misoprostol zur oralen Einnahme zur Verfügung. Es ist zur Geburtseinleitung in einer Dosis von 25 µg alle zwei Stunden oder 50 µg alle vier Stunden zugelassen (maximal 200 µg in 24 Stunden). Cytotec war auf dem deutschen Markt schon seit vielen Jahren nur noch als Import aus anderen EU-Ländern erhältlich. Seit 2021 ist auch dies deutlich erschwert, weil sich die drei größten Importeure mit dem deutschen Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) auf einen Importstopp geeinigt haben.
Nicht weiter schlimm, könnte man meinen, denn nun gibt es ja Angusta. Doch ein Zusammenschluss verschiedener Fachgesellschaften und weiteren Organisationen kritisierte in einem offenen Brief den Wegfall scharf. Misoprostol werde nämlich nicht nur für die Geburtseinleitung verwendet, sondern – in wesentlich höheren Dosen – beispielsweise auch zu medikamentösen Schwangerschaftsabbrüchen. Oder wenn ein abgestorbener Fötus in der Gebärmutter verbleibt, ohne von selbst abzugehen. Hier bestehe nun eine Versorgungslücke.
Inwieweit die negative Berichterstattung in der SZ Anfang 2020 in Zusammenhang mit dem Importstopp von Cytotec steht, ist schwer zu sagen. Die Vermutung liegt aber nahe. Jedenfalls macht dieses Thema deutlich, wie wichtig eine ausgewogene und sensible Berichterstattung über Gesundheitsthemen ist. Und dass man sich dabei nicht nur auf dramatische Einzelfallberichte, sondern vor allem auf vertrauenswürdige wissenschaftliche Evidenz berufen sollte. Denn auch in der „Affäre Cytotec“ hätte es von Vornherein ein hilfreiches Mittel für eine sachlichere Berichterstattung gegeben: Ein Blick in den passenden Cochrane Review.
Text: Dr. Angelika Eisele-Metzger ist wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Cochrane Deutschland Stiftung und am Institut für Evidenz in der Medizin am Universitätsklinikum Freiburg.
Surftipps:
- Beitrag auf WissenWasWirkt über ein Projekt schweizerischer Hebammen, die Ergebnisse von Cochrane Reviews aus der Geburtshilfe zu visualisieren, u.a. zu Methoden der Geburtseinleitung.
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