Fallstudien sind in der Hierarchie der Evidenz ganz weit unten angesiedelt. Sie können aber entscheidende Hypothesen generieren. Das machte Olivier Ameisen. Er erforschte, ob die Substanz Baclofen ein wirksames Mittel gegen die Alkoholsucht ist. Auf extreme Weise.
Im Dezember 2004 veröffentlicht Olivier Ameisen einen wissenschaftlichen Fallbericht. Darin berichtet der Arzt und Forscher von einem 50-jährigen Patienten mit schwerer Alkoholabhängigkeit. Ein dreiviertel Liter Scotch pro Tag ist typisch für seinen suchtkranken Patienten, der schon oft in der Notaufnahme gelandet ist, Entzüge mit Krampfanfällen hinter sich hat und seiner Arbeit schon seit Jahren nicht mehr nachgehen kann.
Versuche, die Suchterkrankung in den Griff zu bekommen, scheitern. Medikamente, Psychotherapien, Reha-Aufenthalte und Meetings der Anonymen Alkoholiker – bis zu 700 Mal in einem Jahr! – bringen mitunter zwar Verbesserungen, sind aber nie von Dauer. Ganz egal, ob der Patient gerade aktiv trinkt oder sich durch eine Abstinenzphase kämpft – Suchtdruck, Angstzustände und Schuldgefühle beherrschen sein Leben.
Doch dann liest Olivier Ameisen von Baclofen, einem Wirkstoff, der seit Jahrzehnten in der Neurologie zur Muskelentspannung zum Einsatz kommt, etwa bei Menschen, die an Multipler Sklerose erkrankt sind. In Tierversuchen ist Baclofen in der Lage, bei süchtig gemachten Ratten das Verlangen nach Kokain, Heroin und Nikotin auszulöschen. Ist der Wirkstoff die letzte Chance für seinen Patienten? Ameisen besorgt Baclofen. Er verabreicht dem suchtkranken Mann, der gerade wieder eine Entgiftung hinter sich gebracht hat, die Tabletten, off label mangels Zulassung, und dokumentiert die Entwicklung.
„Abstinenz ist jetzt natürlich für mich“
Was der Arzt Olivier Ameisen da macht, ist ein hochdosierter Selbstversuch. Er ist sein eigener Patient. Gleichzeitig auch noch in der Rolle des Forschers erlebt er, was bei ihm bisher noch keine Therapie vermochte: „An Tag 37 mit Baclofen verspürte ich keinerlei Verlangen nach Alkohol für das allererste Mal in meinem Leben als Alkoholiker. Sogar bei einem Restaurantbesuch mit Freunden war es mir gleichgültig, dass die anderen tranken.“
Die Sucht rücke zunehmend in den Hintergrund, schreibt Ameisen. Patient bleibt er. Baclofen wird er Zeit seines Lebens weiter einnehmen. „Abstinenz ist jetzt natürlich für mich. Ich plane mein Leben nicht mehr um den Alkohol herum […] und habe keine vorauseilende Angst mehr vor einem Rückfall, vor peinlichen oder gefährlichen Situationen. […] Ich bin nicht länger darüber niedergeschlagen, dass ich eine unheilbare stigmatisierende Krankheit habe. Die Befreiung von den Symptomen der Alkoholabhängigkeit hat meinen Selbstwert deutlich verbessert.“
Olivier Ameisen half die „Wunderpille“ Baclofen – doch die Studienlage ist widersprüchlich
Es bleibt nicht bei Ameisens einmaliger Publikation im Fachblatt Alcohol & Alcoholism. In seinem 2008 erschienenen Buch „Das Ende meiner Sucht“ berichtet er ausführlich von seiner Suchterkrankung und der Eigentherapie mit Baclofen. Das Buch findet große Beachtung und wird in etliche Sprachen übersetzt. Doch die wissenschaftliche Community reagiert verhalten. Zu komplex seien Suchterkrankungen für die Bekämpfung mit einer „Wunderpille“, so ein Argument. Anhänger von Baclofen spekulieren hingegen, der alte und somit patentfreie Wirkstoff sei der Pharmaindustrie schlicht keine teuren Studien wert. Eben solche fordert Ameisen in seinem Buch: Nur diese könnten zeigen, ob Baclofen wirkt wie erhofft und welche Betroffenen darauf am besten ansprechen.
Tatsächlich kam es zu einer Vielzahl solcher Studien – in der Datenbank PubMed findet man seit 2010 über 40 randomisiert-kontrollierte Studien zu verwandten Themen, darunter auch die an der Berliner Charité durchgeführte BacALD-Studie. Während diese Studie und andere RCTs einen Nutzen zeigten, fehlte dieser in anderen Studien – Zeit also, die gesamte Evidenz einer kritischen Prüfung in Form einer systematischen Übersichtsarbeit zu unterziehen. Ein erstmals 2018 erschienener und kürzlich aktualisierter Cochrane Review macht genau dies.
Abstinent bleiben oder weniger trinken – der Cochrane Review in Kürze
Der Cochrane-Review basiert auf 17 Studien, die den zuvor definierten Einschlusskriterien entsprachen. Insgesamt nahmen daran 1818 Erwachsene teil, rund 70 Prozent davon Männer. Das Durchschnittsalter lag bei 47 Jahre, die Alkoholabhängigkeit war unterschiedlich stark ausgeprägt. In zehn Studien hatten die Teilnehmenden bereits einen Alkoholentzug hinter sich, in den anderen konsumierten sie zu Studienbeginn noch Alkohol. Sie alle hatten den Wunsch nach Abstinenz geäußert. Die Studien sind in den Jahren 2010 bis 2021 erschienen. Sie fanden in Australien, Frankreich, Italien, Indien, Deutschland, Israel, Russland, in den Niederlanden und den USA statt – und bieten damit einen recht großen Querschnitt durch diverse Settings. Die Laufzeit lag zwischen 12 und 48 Wochen.
Die Teilnehmer*innen aus der Interventionsgruppe erhielten täglich Baclofen, je nach Studie in niedriger, mittlerer oder hoher Dosierung (30 bis 300 Milligramm pro Tag). Die Vergleichsgruppen bekamen meist ein Placebo oder, in wenigen Fällen, ein etabliertes Medikament wie Naltrexon oder Acamprosat. Fast alle Teilnehmer*innen waren parallel in psychosozialer Behandlung.
Die Einteilung in Interventions- und Vergleichsgruppe erfolgte in allen Studien nach Zufall (randomisiert); Studienpersonal und Teilnehmende waren verblindet – sie wussten also bis zum Studienende nicht, wer welches Mittel erhielt. Die Studien erfüllten meist auch weitere Qualitätskriterien. Die Autor*innen stuften die Vertrauenswürdigkeit der zusammengefassten Ergebnisse nach dem System von GRADE daher als moderat bis hoch ein. Die wichtigsten Ergebnisse:
Hilft Baclofen Betroffenen, komplett trocken zu bleiben?
Ja, wahrscheinlich ist das Rückfallrisikio verringert. In den Studien wurden mit Baclofen im Schnitt 710 von 1000 Teilnehmenden rückfällig. Ohne Baclofen (mit Placebo) waren es 816 von 1000 Teilnehmenden. In der Untergruppe der Teilnehmenden, die zum Therapiestart bereits einen Entzug hinter sich hatten, war der Effekt noch deutlicher.
Wenn keine Abstinenz erreicht werden kann, hilft Baclofen dann, den Alkohlkonsum zu drosseln?
Ja, es ist gut abgesichert, dass Baclofen für mehr abstinente Tage sorgt – auch dieses Ergebnis gilt vorrangig für jene Patient*innen, die bereits entzogen haben. Der Review spricht also dafür, dass Baclofen für manche Menschen entscheidend sein kann, um abstinent zu werden, zu bleiben oder seltener Alkohol zu trinken. Ein Mittel mit Erfolgsgarantie ist es aber nicht – und es erzeugt mitunter Nebenwirkungen, zum Beispiel Müdigkeit, Missempfindungen auf der Haut, Schwindel und Muskelkrämpfe. Wie gut es im Vergleich mit anderen Medikamenten abschneidet, wurde in den Studien nicht aussagekräftig untersucht. Baclofen ist im deutschsprachigen Raum nicht zur Behandlung der Alkoholabhängigkeit zugelassen; die Verschreibung muss daher „off label“ erfolgen. Andere Substanzen sind u.a. Naltrexon und Acamprosat – die als „Anti-Craving-Substanzen“ allerdings nur zögerlich verordnet werden. Manche Expert*innen kritisieren dies als Unterversorgung.
Interview mit Roberta Agabio: Mehr Anerkennung für Anti-Sucht-Medikamente
Roberta Agabio, Erstautorin des Cochrane Reviews „Baclofen bei Alkoholabhängigkeit“ setzt sich mit ihrer Forschung dafür ein, dass Menschen mit einer Alkoholabhängigkeit schneller zu „ihrer“ Therapie kommen. Denn ihr Ziel ist es, dass Gesundheitsberufe die medikamentöse Therapie endlich als (eine mögliche) wirksame Rückfall-Prophylaxe anerkennen.
Cochrane-Autorin Roberta Agabio mit Olivier Ameisen
Julia Harlfinger: Erinnern Sie sich noch daran, wie Sie zum ersten Mal von Olivier Ameisens Selbstversuch gelesen haben?
Roberta Agabio: Ja, das war 2005! Ich war überrascht über die Originalität der Studie! Als Arzt war Ameisen in der Lage, sich selbst Baclofen zu verschreiben, seine persönliche „ideale“ Dosis zu ermitteln und zwischen Wirksamkeit und Sicherheit abzuwägen. Baclofen selbst kannte ich allerdings schon viel früher, weil ich dessen Wirksamkeit an Labortieren untersucht habe.
Was denken Sie heute über Ameisens wissenschaftliche Arbeiten und sein Eintreten für Baclofen? Wie deckt sich sein Fallbericht mit Ihrem Cochrane-Review?
Fast 20 Jahre nach ihrer Veröffentlichung halte ich die Studie von Ameisen noch immer für gültig und interessant. Die Präzisionsmedizin untersucht heute, welche Faktoren das Ansprechen auf pharmakologische Wirkstoffe beeinflussen – so wollen wir jene Personen identifizieren, die am meisten von bestimmten Behandlungsoptionen profitieren können. Zu diesen Faktoren gehören Geschlecht, Alter, körperliche und psychische Begleiterkrankungen.
Ameisen beispielsweise litt an einer Angststörung und fand für sich in Baclofen das ideale Medikament zur Behandlung seiner Alkoholabhängigkeit, nachdem er andere Medikamente (Anmerkung: Naltrexon, Disulfiram, Acamprosat, Topiramat) erfolglos ausprobiert hatte. In der Tat dürfte Baclofen eher bei Menschen helfen, die neben ihrer Sucht- auch an einer Angsterkrankung leiden.
Welche Außenwirkung erhoffen Sie sich von Ihrem Cochrane-Review?
Viele Menschen sind lange betroffen, bevor sie eine Behandlung starten. Ich möchte mit meiner Forschung diese Zeit für Betroffene und ihre Familien verkürzen. Auch Medikamente bei Alkoholabhängigkeit werden nur selten verschrieben. Dafür gibt es mehrere Gründe, u. a. das Stigma, das diese Störung umgibt. Oder die Überzeugung, dass es sich hier nicht um eine Krankheit, sondern eine schlechte Angewohnheit handelt. Viele glauben auch, dass die Krankheit nicht auf Medikamente anspricht. Doch Baclofen ist ein Medikament, das gut handhabbar ist und begrenzte Nebenwirkungen hat. Einer der Vorteile von Baclofen liegt darin, dass es vorwiegend über die Nieren verstoffwechselt wird, deswegen ist Baclofen für Personen mit schweren Lebererkrankungen nützlich. Diese Eigenschaften in Verbindung mit den Belegen für seine Wirksamkeit könnten dazu beitragen, dass mehr Menschen mit einer Alkoholabhängigkeit Medikamente erhalten.
Was ist das häufigste Missverständnis über medikamentöse Therapien?
Die häufigste Fehlannahme über Medikamente gegen die Alkoholabhängigkeit ist, dass sie nicht gut wirken. Tatsächlich ist die Wirkung ähnlich wie bei einigen SSRI (Anmerkung: Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer), die für die Behandlung von Depressionen zugelassen sind. Ärztinnen oder Ärzte würden nicht auf die Idee kommen, depressiven Patient*innen kein Antidepressivum zu verschreiben, weil sie vielleicht nicht darauf ansprechen. Im Falle einer Therapieresistenz werden Mediziner*innen eine Erhöhung der Dosis, ein Wechsel des Medikaments oder andere Behandlungen in Betracht ziehen, zum Beispiel eine Psychotherapie.
Wie hat sich die Forschung zu Baclofen in den letzten Jahren entwickelt? Welchen Stellenwert hat es unter den AUD-Therapien?
Die meisten Studien aus unserem Cochrane-Review wurden in den letzten zehn Jahren veröffentlicht. Diese Zahl deutet auf ein großes Interesse an diesem Medikament hin. Baclofen wurde auch als Off-Label-Medikament in maßgebliche Lehrbücher „Goodman & Gilman’s: The Pharmacological Basis of Therapeutics“ aufgenommen – das ist ein Standardwerk.
Roberta Agabio ist Assistenzprofessorin für Pharmakologie an der der Universität Cagliari in Italien. Sie ist Spezialistin für die Neurobiologie und pharmakologische Behandlung der Alkoholsucht. Derzeit konzentriert sich ihre Forschungstätigkeit auf geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Behandlung.