Symbolbild AA

Anonyme Alkoholiker: Evidenz statt professionelle Arroganz

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Früher nahm Keith Humpreys das Selbsthilfe-Programm der Anonymen Alkoholiker nicht wirklich ernst – heute ist er ein Verfechter. Sein Cochrane Review erhöhte die Glaubwürdigkeit des Programms auch in akademischen Kreisen. Julia Harlfinger hat den Psychiatrieprofessor der kalifornischen Stanford University zu diesem Sinneswandel befragt.

Julia Harlfinger: Was war Ihr persönlicher Standpunkt zu den Anonymen Alkoholikern, kurz AA, am Beginn Ihrer Laufbahn?

Keith Humphreys: Ich dachte: Das kann unmöglich funktionieren! Zum Teil deswegen, weil es hier um eine sehr ernste Erkrankung geht. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ein Haufen ungeschulter Leute helfen kann, indem sie im Kreis sitzen und miteinander über ihre Erfahrungen und Hoffnungen sprechen.

Lebensbeichten im Sesselkreis – so kenne auch ich die AA aus dem TV…

Ja, diese stereotypen Vorstellungen über AA stammen teils aus Film und Fernsehen…

Das wirkt tatsächlich nicht sehr effektiv.

Einen Anteil hat wohl auch eine gewisse professionelle Arroganz. Ich zum Beispiel fragte mich: Wo ist da das Krankenhaus? Wo ist da die Medizin, wo sind die Leitlinien? Wo sind die Psychiater*innen und die Sozialarbeiter*innen? Ich war mit dieser Einschätzung nicht alleine. Unter vielen Expert*innen hatte AA das Image einer Art Volksmedizin ohne Wirkung. Reine Zeitverschwendung also. Suchtspezialist*innen aus Großbritannien etwa urteilten in einer Studie negativ über AA, ohne jemals bei einem Meeting gewesen zu sein. Expert*innen lehnen schnell mal etwas ab, das nicht professionalisiert ist. Doch es gibt durchaus wirksame Maßnahmen zur Gesundheitsförderung, die ganz ohne Ärzt*innen auskommen.

Wodurch hat sich Ihre Einschätzung von AA geändert?

Entgegen meiner Erwartung stellte sich in einer meiner frühen Arbeiten heraus, dass es den Menschen mit AA deutlich besser ging. Es war wie Tag und Nacht! Viele andere Studien haben im Laufe der Zeit ähnliche Ergebnisse gezeigt. Mittlerweile finde ich es fantastisch, dass es AA gibt. Dass diese Intervention wirksam ist, hat sich mittlerweile allgemein, auch unter den meisten Expert*innen, durchgesetzt.

Dennoch gibt es noch immer Missverständnisse rund um AA…

…ja, und eines davon ist, dass das Programm nur für gläubige Christ*innen geeignet sei. Es gibt aber überall auf der Welt 12-Schritte-Programme, durchgeführt von Agnostiker*innen, Atheist*innen, Muslim*innen, Jüdinnen und Juden. Manche Meetings sind sehr spirituell, andere überhaupt nicht. Sie finden im rauen Arbeitermilieu statt oder unter Hochschulprofessor*innen, die über Existenzialismus sprechen. Es gibt Treffen von Frauen, von Afroamerikaner*innen, von queeren Personen. Es ist wichtig für Hilfesuchende und auch ihre Behandler*innen, das zu wissen. Viele unterschätzen, wie divers AA in ist. Wenn man nicht in eine Gruppe passt, kann man sich in einer anderen zugehörig fühlen.

beenhere

Einer von Zehn: Die ganz normale Sucht nach Alkohol

Für den Körper ist Alkohol immer ein Gift – daran ändert auch seine tiefe Verwurzelung in vielen Kulturen wenig. Doch wo hört der „normale“ Konsum auf und fängt die Sucht an? Menschen mit einer Alkoholabhängigkeit oder Alkoholsucht trinken Alkohol typischerweise in größeren Mengen oder häufiger als sie eigentlich möchten. Sie verspüren meist ein starkes Verlagen („Craving“) danach. Oft dominiert Alkohol ihren Alltag, etwa wenn es darum geht, Nachschub zu besorgen oder sich von einem Rausch erholen.

Der Alkoholkonsum verursacht häufig Probleme in unterschiedlichen Lebensbereichen: in der Arbeit, in der Ausbildung, in zwischenmenschlichen Beziehungen. Oft führt die Erkrankung auch dazu, dass Betroffene Aktivitäten und Interessen, die ihnen eigentlich wichtig sind, einschränken oder ganz aufgeben. Sie gehen Risiken ein und können den Konsum auch dann nicht stoppen, wenn sie ihn als problematisch erkannt haben. Die „notwendige“ Alkoholmenge steigt, bei einem Entzug kommt es zu starken, auch körperlichen Symptomen. Unfälle, Gewalt, Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen und geminderte Erwerbsfähigkeit zählen zu den Kosten, die die Erkrankung für Betroffene und Gesellschaft verursacht.

Alkoholabhängigkeit ist keine „Charakterschwäche“, die im Alleingang mit starkem Willen zu bezwingen wäre, sondern eine Krankheit. Immerhin gibt es Behandlungsmöglichkeiten, darunter verschiedene Medikamente, Psychotherapien und Selbsthilfegruppen. Zu den Zielen solcher Therapien und Angebote zählen Abstinenz oder eine Reduktion des Konsums, die Stärkung des Selbstwertgefühls, eine Verbesserung der körperlichen Gesundheit und die Lösung von sozialen Problemen. Schätzungen zufolge sind in Hocheinkommensländern etwa 5 bis 10 von 100 Erwachsenen von einer Alkoholabhängigkeit betroffen. Männer haben ein höheres Risiko. Ohne Behandlung kann sie zu schweren Folgeerkrankungen (z. B. chronische Lebererkrankungen) führen. Weltweit führt die Sucht jedes Jahr für mehr als drei Millionen Menschen zum vorzeitigen Tod.

Waren diese Unterschiede ein Problem, als Sie für den Cochrane Review die Studien zusammenzufassen wollten, um den Gesamteffekt zu beurteilen?

Durchaus. Bei der Untersuchung eines neuen Medikaments im Rahmen einer randomisiert kontrollierten Studie (RCT) kann ich zum Beispiel sicher gehen, dass nur die Interventionsgruppe den fraglichen Wirkstoff bekommt. Mit RCTs zu AA ist das anders: Personen aus der Kontrollgruppe haben durchaus die Möglichkeit, selbständig an AA teilzunehmen – auch wenn das zwecks Vergleichbarkeit mit der Interventionsgruppe eigentlich nicht so vorgesehen ist.

Bei Medikamentenstudien gibt es eine standardisierte Dosierung – etwa 30-Milligramm-Tabletten für zwölf Wochen drei Mal täglich. Bei AA ist die „Dosierung“ nicht so simpel. So sind manche Teilnehmer*innen sehr aktiv – sie gehen häufig zu den Meetings, engagieren sich in der Gruppe, arbeiten an „ihren“ 12 Schritten. Andere wiederum sind kaum zu begeistern, hören bei den Meetings nur mit halbem Ohr zu.

Wie haben sie es dennoch geschafft, klare Aussagen zu treffen?

Die hohe Heterogenität war in der Vergangenheit tatsächlich ein Problem, etwa beim Vorläufer des aktuellen Cochrane Reviews aus dem Jahr 2006. Zum Glück hat sich in den letzten Jahren die Vertrauenswürdigkeit der Evidenz außerordentlich verbessert. Jetzt gibt es aussagekräftigere Studiendesigns mit besseren Messmethoden, längeren Nachverfolgungszeiten und höheren Fallzahlen. In den USA waren die National Institutes of Health (NIH) und das Department for Veterans Affairs wichtige Förderstellen von diesen unabhängigen Studien – sie wollten genau wissen, wie AA abschneidet, etwa im Vergleich zu wirksamen, gut etablierten Therapien wie der kognitiven Verhaltenstherapie und der Motivationssteigerungstherapie.

Als Ihr Cochrane Review 2020 erschien…

…war das Echo enorm.

Auch außerhalb der Scientific Community?

Auf jeden Fall. Sogar die New York Times berichtete darüber – in Zeiten des Madoff-Skandals. Es war der am meisten gelesene und am häufigsten geteilte Artikel. Das konnte ich kaum glauben.

Am schönsten fand ich allerdings die Rückmeldungen, die aus der AA-Community selbst kamen, also von direkt Betroffenen. Sie haben sich bestätigt gefühlt. Jahrelang hatten sie sich anhören müssen, dass AA ein altmodisches, unsinniges Ding aus den 1930ern ist, das unmöglich wirksam sein kann. Renommierte Institutionen, also etwa die Harvard University und die Stanford University haben Wissen legitimiert, das die Betroffenen schon lange davor hatten. Unser Cochrane Review hat, so hoffe ich, auch Kliniker*innen darin bestärkt, ihren Klient*innen AA zu empfehlen.

Die zwölf Schritte der Anonymen Alkoholiker in Kurzform. Mehr Infos auf Deutsch zu den einzelnen Schritten gibt es u. a. bei Wikipedia

In welchen Bereichen wünschen Sie sich noch mehr Wissen?

Ich hätte gerne mehr Daten zu Frauen, die an AA teilnehmen. Die sind bisher unterrepräsentiert. Und mich würden Studien über kulturelle Anpassungen von AA interessieren. Zum Beispiel aus Entwicklungsländern oder Schwellenländern wie Indien.

Ihre Aussagen zur Wirksamkeit von AA leiten Sie von Studien aus den USA, Großbritannien und Norwegen ab und sagen, dass die bisherige Datenbasis weltweite Schlussfolgerungen erlaubt.

Ja, das ist richtig. AA wirkt meine Erachtens kulturunabhängig, weil es dabei um grundlegendes menschliches Verhalten bzw. dessen Veränderung geht. AA ist keine biologische Intervention, wo die Reaktion vielleicht von einem bestimmten Genotyp abhängt, der in ethnischen Gruppen unterschiedlich sein kann.

Aber natürlich spielen kulturelle Unterschiede eine Rolle. Alkohol hat ja je nach Land eine andere Bedeutung. Denken Sie etwa an islamische Staaten. Es könnte sein, dass AA dort eine größere Wirkung hat, wo der Konsum von Alkohol stark stigmatisiert ist, wo Isolation und Depression von Suchtkranken vielleicht noch massiver sind – im Gegenteil zu Ländern wie Großbritannien oder Deutschland, wo es eine gut entwickelte „Alkoholkultur“ gibt.

Vielleicht gibt es in unserem Blog Leser*innen, die AA deswegen nicht ausprobieren möchten, weil ihnen das Programm „zu amerikanisch“ vorkommt…

…weltweit gesehen finden die meisten AA- oder 12-Schritte-Gruppen nicht in Amerika statt. AA ist in fast allen Ländern vertreten und hat sich an die jeweiligen Gegebenheiten angepasst…

…oder weil sie sich nicht vorstellen können, mit Fremden in einem Kreis zu sitzen und über ihre Alkoholproblematik zu sprechen…

…ich würde es dennoch versuchen und zu ein paar Treffen gehen. Es gibt nicht viel zu verlieren außer vielleicht ein wenig Zeit. AA ist gratis, risikoarm im Vergleich zu medizinischen Interventionen und niederschwellig. In Deutschland gibt es viele AA-Anlaufstellen. Natürlich ist AA nicht immer und für alle geeignet. Aber ich würde sagen: Probieren Sie es aus!


Der amerikanische Suchtforscher und Psychologe Keith Humpreys ist Professor an der Stanford University in Kalifornien. Er ist Autor des Standardwerks „Circles of Recovery“ (2003) über Selbsthilfegruppen von Suchtkranken und hat bereits die WHO sowie viele Politiker*innen in gesundheitspolitischen Fragen beraten, darunter Barack Obama während seiner Zeit als US-Präsident.

beenhere

Die Kraft der Gruppe: So funktionieren die Anonymen Alkoholiker

Es gibt verschiedene Selbsthilfeprogramme für Menschen mit Alkoholsucht. Die wohl bekannteste Form sind die „Anonymen Alkoholiker“ (AA). Weltweit gibt es ungefähr 120.000 AA-Gruppen mit insgesamt ca. zwei Millionen Mitgliedern in rund 180 Ländern. Zentral im Konzept der AA sind die regelmäßigen Treffen und die gegenseitige Unterstützung der Mitglieder. Dabei soll die Abstinenz im Laufe der Zeit auf einer Art Reise mit zwölf Etappen (den „12 Steps“) erreicht werden. Das Programm hat sich im Kern seit der Gründung der AA in den 1930ern in den USA nicht wesentlich verändert.

Der Gemeinschaft kommt eine Schlüsselrolle zu: Bei den Treffen erzählen die Mitglieder offen und selbstkritisch von ihren Erfahrungen. Sie gestehen sich ein, die Kontrolle über ihr Trinkverhalten verloren zu haben und Hilfe zu benötigen. Auch Stressbewältigung und die Veränderung von Gewohnheiten sind dabei Thema. Die Teilnehmer*innen, die oft mit Schuld- und Schamgefühlen sowie mit Einsamkeit zu kämpfen haben, sollen durch die Gruppenerfahrung wieder Hoffnung schöpfen, ein Zugehörigkeitsgefühl entwickeln und durch ihr neues soziales Netzwerk an Motivation und Wohlbefinden gewinnen. All dies sind Mechanismen, über die auch professionelle Therapien wirken können.

Die Gruppenleitung haben bei AA freiwillige Laien, oft sind dies selbst Betroffene („peers“). Eine spezielle Ausbildung ist nicht erforderlich, die Leiter*innen können bei den Treffen aber Gesprächsthemen aus Leitfäden vorschlagen. Erfahrene „Sponsor*innen“ aus der Gruppe üben eine Vorbildfunktion aus und fungieren als Mentor*innen für neue Mitglieder. Die Treffen sind kostenfrei und ohne Voranmeldung zugänglich. Auch in Deutschland, Österreich und der Schweiz gibt es hunderte Anlaufstellen der Anonymen Alkoholiker.

Symbolbild Weg aus dem Alkohol

High Certainty Evidence: Der Cochrane Review zu den AA
Trotz der weltweiten Verbreitung fehlte bis vor kurzem eine aussagekräftige Evidenzsynthese zur Wirksamkeit der Anonymen Alkoholiker (AA) oder ähnlicher Zwölf-Schritte-Programme. Dies änderte sich mit einem 2020 erschienenen Cochrane Review. Er schließt 27 Studien ein, 21 davon sind so genannte randomisierte oder quasi-randomisierte kontrollierte Studien. Wenn sie gut gemacht sind, lassen solche Studien aufgrund ihres Designs verlässliche Schlüsse über die (Un-)Wirksamkeit einer Intervention zu.
An den Studien des Reviews nahmen über 10.000 Erwachsene teil, die auf freiwilliger Basis entweder ein AA- oder ein ähnliches Zwölf-Schritte-Programm absolvierten (Interventionsgruppe), das zum Teil einem Leitfaden folgte. Die Kontrollgruppe besuchte zumeist eine Psychotherapie (z. B. kognitive Verhaltenstherapie) mit etabliertem Nutzen. Verfasst haben den Cochrane Review Keith Humphreys (Stanford University), John Kelly (Harvard University) und Marcia Ferri (European Monitoring Centre for Drugs and Drug Addiction).

Die Auswertung der zusammengefassten Daten legen nahe, dass AA durchaus mit professionellen Therapieangeboten mithalten kann oder sogar ein wenig besser abschneiden dürfte. Dies zeigte etwa die Auswertung von zwei RCTs mit ca. 1900 Teilnehmer*innen. Mit dem AA-Programm nach Leitfaden waren ein Jahr nach Behandlungsende 42 Prozent der Teilnehmer*innen abstinent, im Vergleich zu 35 Prozent mit einer professionellen Behandlung. Auch Gesundheitskosten lassen sich mit AA oder Zwölf-Schritte-Programmen offenbar eindämmen.

Diese Teilergebnisse basieren auf Evidenz von hoher oder moderater Vertrauenswürdigkeit (nach GRADE). Für andere Endpunkte sind die Resultate dagegen nur schlecht abgesichert, da die zugrundeliegenden Studien diverse Mängel haben, etwa wenige Teilnehmer*innen oder Unklarheiten bei der Nachverfolgung.

Weitere Informationen:
Webseite der Anonymen Alkoholiker im deutschsprachigen Raum
Thema Alkohol auf gesundheitsinformation.de
Online-Selbsthilfe Alkohol der AOK Nordost
Angebote der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung




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