Vier Aktualisierungen in nur einem Jahr – der Cochrane Review zu Rekonvaleszenten-Plasma als Behandlung von COVID-19 war wahrhaft ein „lebender“, also engmaschig aktualisierter Review. Und dieses kurze Leben war ein sehr bewegtes: Zu Beginn der Pandemie schien das Blutplasma von Genesenen und die darin enthaltenen Antikörper gegen SARS-CoV-2 noch ein aufsehenerregender und vielversprechender Therapieansatz zu sein. Doch die inzwischen recht umfangreiche Evidenz macht deutlich: Die sogenannte Plasmatherapie zeigt keinen Nutzen als Behandlung für bereits hospitalisierte COVID-19-Patienten. Der Review basiert inzwischen auf neun randomisierten kontrollierten Studien mit mehr als 12.000 Teilnehmenden, deren Vertrauenswürdigkeit als hoch eingestuft wird, insofern ist es unwahrscheinlich, dass weitere, noch laufende Studien dieses Bild noch entscheidend verändern werden. In diesem Interview spricht Hauptautorin Vanessa Piechotta von der Uniklinik Köln und Cochrane Haematology über den Review, der im Rahmen des Evidenz-Ökosystems CEOsys (www.covid-evidenz.de) entstand.
Was ist die Plasma-Therapie und wie neu ist sie? Warum setzte man darin zu Beginn der Pandemie so viel Hoffnung?
Rekonvaleszenten-Plasma wird bereits seit dem 19. Jahrhundert eingesetzt und hat sich bei anderen Virusinfektionen wie SARS, Ebola und Grippe als wirksame Behandlungsmethode erwiesen. Wenn unser Immunsystem gegen eine Infektion ankämpft, bildet es Antikörper im Blutplasma. Menschen, die sich von der Infektionskrankheit erholt haben, besitzen dann virusspezifische Antikörper. Im Fall von COVID-19 war die Hoffnung und Hypothese, dass Plasma aus einer Blutspende von genesenen COVID-19-Patient:innen möglicherweise bei der Behandlung von akut erkrankten Patient:innen helfen kann. Man nennt eine solche Plasma-Therapie auch eine passive Immunisierung. Sie unterstützt das Immunsystem des Empfängers, die Viruspartikel abzubauen.
Der Review wurde erstmals im Mai 2020 veröffentlicht. Zu diesem Zeitpunkt gab es nur sehr wenig randomisierte Studien. Deshalb wurden damals auch andere, weniger aussagekräftige Studiendesigns einbezogen. Würden Sie die gleiche Entscheidung noch einmal treffen?
Zu Beginn der Arbeit an unserem Review wurde die Therapiemöglichkeit mit Rekonvaleszenten-Plasma weltweit diskutiert. Die ersten veröffentlichten Fallberichte suggerierten eine sehr gute Wirksamkeit. Wir entschieden uns deshalb, alle zu diesem Zeitpunkt verfügbaren Studien einzubeziehen, um dadurch einen möglichst umfassenden Review zu erstellen. Es gab damals allerdings nur sehr wenige Studienergebnisse zur Sicherheit oder Wirksamkeit der Rekonvaleszenten-Plasmatherapie. Darum haben wir zunächst auch große Beobachtungsstudien eingeschlossen, die zwar nicht so aussagekräftig wie randomisierte kontrollierte Studien sind, aber trotzdem wichtige Anhaltspunkte liefern können.
Der Einschluss von Evidenz mit geringerer Aussagekraft hat uns der Beantwortung unserer Forschungsfrage zwar nicht wirklich nähergebracht, lieferte aber an sich schon eine wichtige Botschaft an die Gesundheitspolitik – dass nämlich die vorliegende Evidenz sehr dürftig war. Wir glauben daher, dass es unter bestimmten Umständen in der Tat hilfreich ist, auch weniger aussagekräftige Studien oder Studiendesigns einzubeziehen, und würden diesen Ansatz erneut in Betracht ziehen.
Seit Erstveröffentlichung des Reviews hat sich einiges getan, was unser Verständnis von COVID-19 und den verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten angeht. Wie hat sich das im Review niedergeschlagen?
Wir haben die Fragestellungen und Methoden des Reviews bei jeder Aktualisierung im Hinblick auf neu gewonnene Forschungsergebnisse oder neue Hypothesen verfeinert. Je mehr wir über Merkmale von Patient:innen mit einem erhöhten Risiko für einen schweren oder tödlichen Verlauf der Krankheit lernten, desto besser konnten wir analysieren, ob bestimmte Untergruppen (z. B. Menschen mit Vorerkrankungen oder ältere Menschen) vielleicht mehr von der Behandlung profitieren als andere. Wir konnten so auch untersuchen, ob Faktoren wie der Antikörpertiter im gespendeten Plasma oder der Zeitpunkt der Verabreichung des Plasmas Einfluss auf das Ergebnis haben.
Am wichtigsten war wahrscheinlich die Unterteilung nach dem Schweregrad des Krankheitsverlaufs. Studien zeigen, dass Menschen je nach Krankheitsstadium unterschiedlich auf Therapien ansprechen. Wir teilten die Studienteilnehmenden deshalb in Gruppen ein, z. B. hospitalisierte Patient:innen mit und ohne künstliche Beatmung sowie Menschen mit einer nur asymptomatischen Infektion oder leichten Erkrankung.
Der Review enthält auch Evidenz aus der britischen RECOVERY-Studie („Randomised Evaluation of COVID-19 therapy“). Diese Studie untersucht seit März 2020 die Wirkung verschiedener Therapien bei COVID-19. Sie ist umfassend und hat ein interessantes Design. Können Sie erklären, was in dieser Studie untersucht wurde und warum sie in der Pandemie so nützlich war?
RECOVERY ist eine Vergleichsstudie mit adaptivem Design, die zahlreiche Therapieansätze für COVID-19 überprüft. Die Studie untersucht verschiedene Medikamente und Interventionen, die entweder bereits gegen andere Krankheiten eingesetzt oder gerade erst neu entwickelt werden. Das flexible Design von RECOVERY erlaubt es, Therapie-Vergleiche im Laufe der Zeit hinzuzufügen oder auch zu entfernen, wenn die Ergebnisse in Bezug auf die (Un-)Wirksamkeit und/oder Sicherheit der Therapieform eindeutig waren. Im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie war dieses Studiendesign sehr sinnvoll, da zunächst wenig bis gar nichts über die potenziellen Therapiekandidaten bekannt war.
Die Studie rekrutierte über 40.000 Teilnehmer:innen und untersuchte 13 potenzielle Behandlungsmöglichkeiten, darunter auch die Plasma-Therapie. Innerhalb eines Jahres wurden ca. 11.500 Teilnehmer:innen in den Vergleich zu Rekonvaleszenten-Plasma eingeschlossen.
Viele Studien sind zu klein für Subgruppenanalysen. Der Umfang von RECOVERY erlaubt es jedoch, unterschiedliche Effekte von Behandlungen in bestimmten Gruppen zu untersuchen. Das ist hilfreich, um festzustellen, ob eine Behandlung in bestimmten Gruppen wirkt, in anderen jedoch nicht. Im Hinblick auf unsere Forschungsfrage deuten die Daten aus RECOVERY darauf hin, dass es für die Wirksamkeit einer Plasma-Therapie bei hospitalisierten Patient:innen keinen Unterschied macht ob sie erst seit Kurzem (bis sieben Tage) oder schon länger Symptome hatten. Es machte auch keinen Unterschied, ob sich bei Patient:innen vor Beginn der Behandlung bereits eigene Antikörper nachweisen ließen oder nicht.
Dies ist bereits die vierte Aktualisierung des Reviews – was veranlasste Sie, die Aktualisierungen so schnell vorzunehmen?
Die Uhren gehen anders in einer Pandemie. Der Fortschritt, den wir in der Forschung im letzten Jahr gesehen haben, ist enorm. Arbeiten, die normalerweise Jahre dauern, werden jetzt in wenigen Monaten fertig. Die Aktualisierungen unseres Reviews wurden jedoch nicht nur durch neue Forschungsergebnisse motiviert, sondern auch durch politische Diskussionen und andere Ereignisse. Zum Beispiel hat die amerikanische Zulassungsbehörde FDA (Food and Drug Administration) in den USA im August 2020 die Behandlung von COVID-19 mit Rekonvaleszenten-Plasma per Notfallgenehmigung gestattet (siehe auch unseren letzten Artikel zu COVID-19: Immunität spenden?) Wir haben alle diese Entwicklungen genau verfolgt, um den Review dann im passenden Moment zu aktualisieren. Das war wichtig, weil auf der ganzen Welt enorm viel Ressourcen in das Sammeln von Rekonvaleszenten-Plasma investiert worden waren.
Zurzeit laufen noch 77 weitere randomisierte kontrollierte Studien zur Plasma-Therapie. Wollen Sie die Ergebnisse dieser Studien noch in den Review einbeziehen, oder war dies die letzte Aktualisierung des Reviews, jetzt wo wir wissen, dass diese Behandlung keinen wirklichen Effekt auf die Sterblichkeit von COVID-19-Patient:innen hat?
Unser Review zielt auf verschiedene Behandlungsvarianten und Patientengruppen ab. Bisher können wir nur für die – allerdings sehr wichtige – Gruppe von hospitalisierten Patient:innen mit COVID-19 mit hoher Zuverlässigkeit sagen, dass Rekonvaleszenten-Plasma keine Wirkung zeigt.
Im letzten Jahr gab es die Diskussion, dass Plasma-Therapie eventuell im frühen Krankheitsstadium eingesetzt werden sollte, damit sie wirksam sein kann, also bei Personen mit einer asymptomatischen oder einer milden Erkrankung bevor eigene Antikörper gebildet werden. Ebenfalls gab es die Hypothese, dass bestimmte Patientengruppen am meisten davon profitieren würden, z. B. Personen mit einem geschwächten Immunsystem. Oder dass die Wirksamkeit von der Konzentration der neutralisierenden Antikörper im transfundierten Plasma abhängt.
Diese Hypothesen entstanden, nachdem die Forschung zunächst wenig eindeutige Ergebnisse erbracht hatte. Sie zeigen auch die große Faszination für diese Behandlung. Wegen dieser noch offenen Fragen werden wir den Review weiter aktualisieren. Dabei werden wir auch die Evidenz zur ursprünglichen Fragestellung updaten, auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass sich die Ergebnisse dort noch merklich ändern.
Wie lief die Zusammenarbeit mit Ihren Co-Autoren und -Autorinnen? Was würden Sie anderen Autoren-Teams raten, die gerade im Homeoffice arbeiten?
Unser Team hält regelmäßige Videokonferenzen ab, um Fragen und Aufgaben zu besprechen und bleibt zwischendurch per E-Mail in Kontakt. Aufgrund der weltweiten Verteilung unserer Team-Mitglieder war Homeoffice kein Hindernis, sondern eher eine Erleichterung. Wir konnten ein festes Zeitfenster finden, das den meisten von uns passte (frühmorgens in Großbritannien und abends in Australien). Dadurch konnten wir Meetings kurzfristig einberufen. Am wichtigsten war aber, dass sich das gesamte Team während des letzten Jahres voll für das Projekt eingesetzt hat.
Es scheint fast, als müsse man die Plasma-Therapie als potentielle Behandlung für COVID-19zu den Akten legen. Aber offenbar werden Sie weiterhin die Evidenz für eine Hyperimmunglobulin-Therapie gegen COVID-19 untersuchen, also den Einsatz von aufgereinigten Antikörpern aus dem Plasma von Rekonvaleszenten oder Tieren?
Einen kompletten Schlussstrich können wir unter das Thema Plasma-Therapie noch nicht ziehen, denn wir müssen noch einige verbleibende Unsicherheiten klären. Aber ja, es ist ein gutes Gefühl, wenigstens eine der unzähligen Fragen beantwortet zu haben, die es zu COVID-19 gibt.
Wir hatten geplant, in diese Übersichtsarbeit auch die Behandlung mit Hyperimmunglobulinen einzubeziehen. Wir konnten aber zunächst keine abgeschlossenen Studien finden. Inzwischen kommen erste Ergebnisse zur Wirksamkeit von Hyperimmunglobulinen heraus. Wir überlegen uns deshalb gerade, dazu einen eigenen Review zu erstellen und diesen dann unabhängig vom Review zu Rekonvaleszenten-Plasma fortzuführen.
Wie fühlt es sich an, nach nur einem Jahr schon dort zu stehen, wo Sie jetzt stehen?
Wir freuen uns, dass wir dazu beitragen konnten, die Wissenslücke zu diesem kontroversen Thema zu schließen. Nachdem die Impfstoffe endlich zur Verfügung stehen, gibt es nun auch die Möglichkeit, sich aktiv gegen die Krankheit zu immunisieren. Allerdings ist unklar, ob eine Impfung auch bei immungeschwächten Patient:innen eine ausreichend starke Antikörperreaktion hervorruft. Diese Patient:innen sind möglicherweise weiterhin darauf angewiesen, mit Rekonvaleszenten-Plasma und Hyperimmunglobulinen passiv immunisiert zu werden. Darüber hinaus sind die Behandlungsmöglichkeiten für Menschen mit COVID-19, unabhängig vom Schweregrad, immer noch begrenzt, und das Virus und seine Mutationen werden uns wahrscheinlich noch eine ganze Weile begleiten. Wir brauchen sichere und wirksame Behandlungen. Von daher ist es zwar bedauerlich, aber umso wichtiger zu wissen, dass Rekonvaleszenten-Plasma die Ergebnisse für hospitalisierte Patienten nicht verbessert.