In unserem letzten Beitrag haben wir Cochrane-Evidenz zum Nutzen von strukturierten Entscheidungshilfen für das „Shared Decision Making“ von Ärztin und Patient vorgestellt. Doch welche Rolle spielen solche Entscheidungshilfen in der Praxis? Warum werden sie nicht so oft eingesetzt, wie es die Evidenz nahelegt? Zum Glück finden sich unter unseren Cochrane-Deutschland-Unterstützer*innen auch zwei, die in der Patientenberatung tätig sind. Wir haben Monika Müller und Ulrich Hufnagel zum Einsatz von Entscheidungshilfen befragt.
Wie sieht Ihre Arbeit in der Patientenberatung aus und mit welchen Problemen wenden sich Patient*innen an Sie?
Müller: Patient*innen wenden sich mit unterschiedlichen Anliegen an uns, z.B. Fragen zu Operationsverfahren, IGel-Leistungen, Therapieoptionen, zu Ansprüchen an Krankenkassen und Pflegeversicherungen oder bei Problemen mit Ärzt*innen. Unser Anspruch in der Beratung ist, den Ratsuchenden evidenzbasierte und verständliche Informationen zu geben, damit sie selbst dann eine für sie passende, informierte Entscheidung treffen können.
Hufnagel: In den Kliniken geht es oft um als belastend erlebte Kommunikationssituationen und um Mängel in der Ablauforganisation. In der allgemeinen Beratungsstelle gibt es häufig Beratungen zu Patientenverfügungen und zu Problemen mit Kostenträgern und Abrechnungen von Ärzt*innen. Immer wieder erreichen uns auch Fragen zu medizinischen Themen, bei denen wir beispielsweise zu den Zugangswegen zu einer Zweitmeinung beraten.
Was ist Ihr Eindruck, inwieweit werden Patient*innen in der Gesundheitsversorgung in Entscheidungsprozesse einbezogen?
Hufnagel: Meiner Erfahrung nach werden Patient*innen in den letzten Jahrzehnten mehr einbezogen. Oft ist aber in den Kliniken und auch bei den niedergelassenen Ärzt*innen wenig Zeit für ein ausführliches oder manchmal auch erforderliches zweites Gespräch zur Diagnose und den Optionen. Es wird fast immer einmal darüber gesprochen und die Patient*innen, die über ihre Belange gut informiert entscheiden möchten, die müssen sich dann selber auf den Weg machen. Ich empfehle immer, die Arztgespräche gut vorzubereiten, die Fragen aufzuschreiben und im Gespräch darauf zu achten, dass alle behandelt werden.
Müller: Für uns ist es eine klare Sache, dass die Patient*innen in den Entscheidungsprozess einbezogen werden müssen. Es rufen aber nur diejenigen bei uns an, die nicht schon beim Arzt bzw. der Ärztin eine Entscheidung getroffen haben. Daher kann ich keinen „Gesamteindruck“ gewinnen. Der Eindruck, der sich aufdrängt, ist, dass die Aufklärung beim Arzt bzw. der Ärztin den Patient*innen häufig nicht ausreicht, um selbstbestimmt eine Entscheidung zu treffen, daher rufen sie uns an und lassen sich die Optionen, mit Vor- und Nachteilen nochmals genau erklären.
Setzen Sie in der Patientenberatung Entscheidungshilfen ein?
Müller: Wenn möglich geben wir schriftliche Patienteninformationen weiter, sofern es welche gibt. Und ich gebe auch gelegentlich Entscheidungshilfen zu einem bestimmten Thema, wenn ich bei der Recherche dazu auf eine stoße.
Hufnagel: Ich verweise auf verlässlichen Informationsmöglichkeiten im Netz und recherchiere im Bedarfsfall auch selber. Entscheidungshilfen habe ich bisher nicht verwendet. Ich habe mir jetzt einige angeschaut und denke, dass sie für manche Patient*innen ein gutes Instrument sein können, um mehr Klarheit zu bekommen und wichtige Gespräche vorzubereiten.
Ein aktueller Cochrane Review zeigt das große Potenzial von Entscheidungshilfen, die Zufriedenheit mit Entscheidungen zu verbessern. Dennoch kommen sie in der Praxis häufig nicht zum Einsatz. Was steht dem aus Ihrer Sicht im Wege? Und wie könnte man das ändern?
Hufnagel: Ich denke, dass die Entscheidungshilfen im deutschen Gesundheitswesen bisher zu wenig bekannt sind. Sie sollten bei den niedergelassenen Ärzt*innen und in den Kliniken gerade auch angesichts des Zeitmangels den Patient*innen als eine Möglichkeit genannt werden, um zu mehr Klarheit zu gelangen. Und auch um auf ein weiteres Gespräch gut vorbereitet zu sein und die wichtigen Fragen stellen zu können. Eine Übersicht, zu welchen Krankheitsbildern und Problemen es qualitativ gute Entscheidungshilfen gibt, wäre für die Beratungstätigkeit hilfreich. Ich habe jetzt begonnen, dazu zu recherchieren.
Müller: Mangelndes Wissen darüber, dass es zu einem Thema Entscheidungshilfen gibt, halte ich für den wichtigsten Faktor, warum sie nicht zum Einsatz kommen. Die Aufgabe, Ärzt*innen Informationsmaterial dazu zur Verfügung zu stellen, könnte z.B. bei den Ärztekammern angesiedelt sein. Es ist zudem essenziell, dass der Zugang zu Entscheidungshilfen für Patient*innen einfach ist. Wenn Patient*innen beispielsweise im Internet Suchbegriffe wie „Entscheidungshilfe“ und „Grauer Star Operation“ eingeben, sollte der erste angezeigte Link direkt zu nutzbaren Entscheidungshilfen führen. Kontraproduktiv sind zusätzliche Hürden, wie die Notwendigkeit einer Registrierung, bevor man die gesuchten Informationen erhält.
Was können Patient*innen selbst tun, um besser in Entscheidungsprozesse mit einbezogen zu werden?
Hufnagel: Ganz wichtig ist es meiner Meinung nach, deutlich zu machen, dass man über die medizinischen Möglichkeiten und Maßnahmen gut informiert sein möchte, dass man sich mit den inhaltlichen Fragen beschäftigt und im Zusammenwirken mit den Ärzt*innen eine eigene Entscheidung treffen möchte, für die man dann auch die Verantwortung übernimmt. Für manche kann es auch bei mehreren Optionen hilfreich sein, die Ärztin bzw. den Arzt zu fragen, welche Option er für sich oder seine Angehörigen in dieser Situation wählen würde.
Monika Müller arbeitet als Patientenberaterin bei der VdK Patienten- und Wohnberatung des VdK Landesverbandes Baden-Württemberg.
Ulrich Hufnagel ist in der Beratungsstelle der unabhängigen Patientenberatung Tübingen e.V. und als Patientenfürsprecher am Universitätsklinikum und der Berufsgenossenschaftlichen Klinik Tübingen ehrenamtlich tätig.
Die Fragen stellte Angelika Eisele-Metzger
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