Strukturierte Entscheidungshilfen sind ein wichtiges Werkzeug im Prozess der gemeinsamen Entscheidungsfindung zwischen Ärzten bzw. Ärztinnen und Patient*innen. Ein Cochrane Review zeigt jetzt eindrücklich ihren Nutzen.
„Welche Optionen bieten sich mir und welche Vor- und Nachteile hätten diese?“ Diese Frage stellt sich mir als Patientin, wenn ich vor einer Entscheidung über eine Behandlung oder eine Früherkennungsuntersuchung stehe. Wie viele andere Patientinnen und Patienten möchte ich an Entscheidungen, die meine Gesundheit betreffen, aktiv beteiligt sein, vor allem, wenn es mehrere Wahlmöglichkeiten gibt.
Seit gut zehn Jahren sind Ärztinnen und Ärzte durch das Patientengesetz von 2013 sogar verpflichtet, Patientinnen und Patienten umfassend und verständlich über Behandlungen und bestehende wissenschaftliche Unsicherheiten aufzuklären. Niemand soll später sagen: „Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich mich anders entschieden.“
Bei der Wahl der passenden Therapie sollen aber nicht nur die wissenschaftliche Evidenz, sondern auch die persönlichen Wertvorstellungen, Prioritäten und Bedürfnisse der Betroffenen berücksichtigt werden, so das Credo der evidenzbasierten Medizin. Was dem einen Menschen wichtig ist, kann für den anderen ein ganz anderes Gewicht haben. Beispielsweise mag bei einer lebensbedrohlichen Erkrankung für den einen/die eine jeder gewonnene Lebensmonat relevant sein, einem anderen/einer anderen sind „in guter Lebensqualität verbrachte Monate“ wichtiger.
Partizipative Entscheidungsfindung heißt dieser Prozess der gemeinsamen Entscheidungsfindung, auch bekannt als Shared Decision Making (SDM). SDM setzt eine Kommunikation auf Augenhöhe zwischen mir und dem Behandlungsteam voraus. Zunächst benötige ich alle relevanten Informationen, um genau zu verstehen, was der Stand der Wissenschaft ist. Erst dann kann ich die Vor- und Nachteile der konkurrierenden Möglichkeiten für mich persönlich gegeneinander abwägen.
Doch wie vermittelt man den Stand und die Unsicherheiten der aktuellen wissenschaftlichen Evidenz am besten? Und wie kann man Patient*innen am besten dabei unterstützen, zu einer für sie passenden Entscheidung zu kommen, die sie später nicht bereuen?
Das Projekt SHARE TO CARE
Um in einem SDM-Prozess gute Entscheidungen für Patient*innen zu realisieren, startete 2017 in Kiel das vom Innovationsfond geförderte Programm SHARE TO CARE. Es wird derzeit bereits an mehreren Standorten in Deutschland umgesetzt und der Gemeinsame Bundesausschuss berät aktuell, inwieweit es in die Regelversorgung übernommen werden soll.
Im Rahmen dieses Projekts wurden zur praktischen Unterstützung einer partizipativen Entscheidungsfindung 80 Entscheidungshilfen für verschiedenste Erkrankungen (von A wie Augen bis Z wie Zähne) entwickelt, die online verfügbar sind. Entscheidungshilfen sind dabei nur in Teil des Projekts, das aus insgesamt vier Umsetzungsteilen besteht:
1. Training für Ärztinnen und Ärzte,
2. Erstellung von Entscheidungshilfen,
3. Einbindung aller Pflegekräfte,
4. Aktivierung der Patienten*innen.
Weitere Beispiele für Entscheidungshilfen von gesundheitsinformation.de (IQWiG):
Schultersteife: Welche Behandlungsmöglichkeiten habe ich?
Myome: Welche Behandlungsmöglichkeiten habe ich?
Gallensteine: Wie können sie behandelt werden?
Gebärmuttersenkung: Welche Behandlungsmöglichkeiten habe ich?
Was sind Entscheidungshilfen?
Eben diesen beiden Zielen dienen sogenannte Entscheidungshilfen (Decision Aids). Dabei handelt es sich um evidenzbasierte, gut strukturierte und verständliche Informationsmaterialien zu Behandlungen oder Screening-Tests. Klassiker sind gedruckte Broschüren mit Infografiken. Es gibt aber auch Online-Entscheidungshilfen, die auch interaktive Elemente und Videos umfassen können. So oder so: Gute, evidenzbasierte Entscheidungshilfen sollen über allgemeine Gesundheitsinformationen hinausgehen.
Insbesondere sollen Entscheidungshilfen die Nutzer*innen Schritt für Schritt durch den Entscheidungsprozess leiten. Sie machen die in Betracht gezogene Entscheidung explizit, liefern evidenzbasierte Informationen zu den Optionen und den damit verbundenen Vor- und Nachteilen und helfen bei der Klärung persönlicher Prioritäten. Dabei sollen sie die ärztliche Beratung nicht ersetzen, sondern ergänzen, und als praktische Unterstützung bei der partizipativen Entscheidungsfindung dienen. Sie helfen Patientinnen und Patienten dabei, sich auf ergebnisoffene Entscheidungsgespräche mit ihren Ärztinnen und Ärzten vorzubereiten. Im Idealfall können sie so zu einem Schlüsselelement an der Schnittstelle zwischen Evidenz und Gesundheitsversorgung werden. Doch wie wirksam sind solche Entscheidungshilfen wirklich? Können sie die Qualität von Entscheidungen wirklich verbessern, so dass Patient*innen wohlinformiert Behandlungen wählen, die zu ihren Werten passen?
Dieser Frage geht ein vor 20 Jahren erstmals veröffentlichter und nun erneut aktualisierter Cochrane Review nach. Und der gibt in dieser neuesten Fassung nun recht eindeutige Antworten. Bereits die früheren Versionen dieses Reviews hatten weltweit bedeutenden Einfluss – er ist einer der meistzitierten Cochrane Reviews überhaupt. Nun hat sich die Genauigkeit der Abschätzung des Effekts von Entscheidungshilfen durch zahlreiche neu hinzugekommene Studien zum Thema nochmals deutlich verbessert.
Cochrane Review der Superlative
– 21 beteiligte Autor*innen
– 520 Seiten
– 209 Studien mit insgesamt 107.698 Teilnehmenden als Basis – fast doppelt so viele wie in der letzten Version aus dem Jahr 2017
– Studien aus 19 Ländern auf vier Kontinenten (Asien, Europa, Nordamerika, Australien)
– 71 verschiedene Gesundheitsentscheidungen. Die meisten davon betrafen kardiovaskuläre Behandlungen (n = 22 Studien), Krebsvorsorge (n = 17 Darmkrebs, 15 Prostata, 12 Brust), Krebsbehandlungen (z.B. 15 Brust, 11 Prostata), Behandlungen bei psychischen Problemen (n = 10 Studien) und Gelenkersatzoperationen (n = 9 Studien).
– Einer der am häufigsten zitierten Cochrane Reviews überhaupt (erstmals 2003 veröffentlicht), wird weltweit in mehr als 90 klinischen Leitlinien zitiert.
– Die Vertrauenswürdigkeit der Evidenz nach GRADE wird nun für fast alle Schlüsselresultate als „hoch“ eingeschätzt.
Ziel dieses bahnbrechenden Cochrane Reviews war es, die Wirkungen von Entscheidungshilfen für Behandlungs- oder Screening-Entscheidungen zu bewerten. Dabei wurden im Entstehungsprozess des Reviews auch Patient*innen einbezogen.
Doch wie misst man den „Nutzen“ von Entscheidungshilfen? Besonders wichtig war unter den untersuchten Endpunkten die „informierte wertebasierte Entscheidungskongruenz“, d.h. die Übereinstimmung zwischen den Wertvorstellungen, Prioritäten und Bedürfnissen der Patient*innen und den getroffenen Entscheidungen.
Für diesen schwierig zu messenden, aus mehreren Komponenten bestehenden Endpunkt konnten die Autor*innen „nur“ 21 Studien für die gemeinsame Auswertung heranziehen. Ob er in den übrigen Studien nicht berichtet oder lediglich nicht gemessen wurde, bleibt offen. Wenn bestimmte Ergebnisse selektiv nicht berichtet werden, kann deren Fehlen die Aussagen eines Reviews verzerren (Publikationsbias). Da die Autor*innen ein Nicht-Berichten dieses Endpunkts nicht sicher ausschließen können, stuften sie die Vertrauenswürdigkeit der Evidenz nach GRADE vorsichtshalber auf „moderat“ herab. Für alle anderen Endpunkte bewerteten sie die Vertrauenswürdigkeit dagegen als „hoch“.
Weitere Aspekte, für die sich die Autor*innen interessierten, betrafen den Entscheidungsprozess, beispielsweise die Verbesserung des Wissens der Teilnehmenden, die Genauigkeit der Risikowahrnehmung, die Beteiligung an der Entscheidungsfindung oder das Sich-Informiert-Fühlen.
Eindeutige Evidenz: Entscheidungshilfen fördern informierte Wahl
Der aktualisierte Review stellt jetzt noch überzeugender als zuvor fest: Die Verwendung von Entscheidungshilfen führt bei Erwachsenen im Vergleich zur herkömmlichen Versorgung zu einer deutlichen Verbesserung ihres Wissens hinsichtlich der Wahlmöglichkeiten und einer genaueren Wahrnehmung von möglichem Nutzen und Risiko. Sie fühlen sich besser informiert und sind sich darüber klarer, welche Aspekte einer Entscheidung für sie am wichtigsten sind. Zudem zeigt der Review, dass solche Entscheidungshilfen den Anteil der Menschen erhöhen, die mit dem Prozess der Entscheidungsfindung zufrieden sind und sich aktiv daran beteiligen, ohne dass sie ihre getroffene Gesundheitsentscheidung später bedauerten.
Für den Endpunkt „informierte wertebasierte Entscheidungskongruenz“ lässt sich das in konkreten Zahlen ausdrücken: Unter der Annahme, dass ohne eine Entscheidungshilfe 295 von 1000 Betroffenen eine informierte Entscheidung, die ihren Wünschen entspricht, fällen, sind es mit einer Entscheidungshilfedeutlich mehr, nämlich 481 von 1000 Betroffenen (21 Studien, Vertrauenswürdigkeit der Evidenz nach GRADE: moderat).
Was die Wahl bestimmter Optionen betrifft, war diese mit Entscheidungshilfen – wie von Präferenzen-abhängigen Instrumenten auch zu erwarten – ziemlich variabel. Für einige Optionen zeigte sich jedoch eine bestimmte Tendenz: Mit dem Einsatz von Entscheidungshilfen nimmt die Anzahl von Patient*innen, die sich für größere Operationen entscheiden, ab. Patient*innen geben also häufiger konservativen Optionen den Vorzug. Für Darmkrebsvorsorgeuntersuchungen nimmt die Teilnahme zu, für Früherkennungsuntersuchungen auf Prostatakrebs nimmt sie ab.
Jetzt müssen Entscheidungshilfen nur noch in der Praxis ankommen
Entscheidungshilfen haben also wissenschaftlich erwiesen das Potenzial, die Gesundheitsversorgung entscheidend zu verbessern und das Shared Decision Making im Praxisalltag zu erleichtern. Die Autor*innen eines begleitenden Editorials in der Cochrane Library fordern, dass sie nun auch endlich verstärkt Einzug in die Praxis halten müssen.
Allerdings muss dafür wahrscheinlich einiges an Energie und Mühe investiert werden, um die wissenschaftlich fundierten, strukturiert aufbereiteten und verständlichen Informationen in Entscheidungshilfen regelmäßig zu aktualisieren. Und es müssen gewohnte Routinen beim Gesundheitspersonal und eingefahrene Rollenmuster auf Seiten der Patientinnen und Patienten überwunden werden.
Interessanterweise zeigt der Cochrane Review, dass „Zeitmangel“ kein Hindernis ist, denn durch Entscheidungshilfen verlängert sich die Beratungsdauer nicht oder nur geringfügig.
Begünstigende Faktoren für die Nutzung von Entscheidungshilfen sind demnach:
- die Verfügbarkeit als Online-Tool,
- die Einbeziehung von Patientinnen und Patienten in deren Entwicklung,
- die Unterstützung durch Fachverbände oder klinische Leitlinien,
- eine positive Haltung seitens der Ärzte und Ärztinnen,
- spezielle Schulungen für das medizinische Fachpersonal,
- die Eingliederung in den Behandlungsablauf
- die Unterstützung durch die (Klinik-)Leitung
Die Förderung von „SHARE TO CARE“ durch den Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses verdeutlicht das Bestreben in Deutschland, Entscheidungshilfen zu implementieren. Ich hoffe persönlich sehr, dass der Weg für eine weitreichende Anwendung im deutschen Gesundheitswesen geebnet ist.
Text: Dr. Birgit Schindler
Zum Cochrane Review Entscheidungshilfen für Screening‐ oder Therapieentscheidungen
Zum zweiten Teil dieses Beitrags, in dem wir Praktiker*innen zum Einsatz von Entscheidungshilfen befragt haben
Weiterführende Links:
Beitrag zur gemeinsamen Entscheidungsfindung auf WissenWaswirkt (2019)
Initiative „Gemeinsam gut entscheiden – Choosing wisely Austria“
Initiative „Coosing Wisely“ aus den USA
International Patient Decision Aid Standards (IPDAS) Collaboration