Früher war nicht alles besser

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Klar, nicht alles an der modernen Medizin ist ideal. Aber manchmal sollte man sich daran erinnern, wie sehr sie unser Leben in den letzten hundert Jahren verändert hat – zum Besseren. Unseren Autor Georg Rüschemeyer erinnert der Spaziergang zu einer 150 Jahre alten Kapelle nahe seines Wohnorts regelmäßig daran.

Zehn Kilometer südlich von Freiburg liegt am Rande des Schwarzwaldes die kleine Ortschaft Sölden, in der ich seit vier Jahren wohne. Am Ortsrand erhebt sich der Saalenberg, eine kleine Anhöhe, von der man einen fantastischen Blick auf das Rheintal, die Vogesen und den gegenüberliegenden Schönberg hat. Auf ihrem höchsten Punkt steht die kleine Saalenberg-Kapelle. Das 1875 erbaute Kirchlein ist nicht nur ein wunderschöner Zielpunkt für Spaziergänge, sondern für mich auch ein Denkmal dafür, warum man froh sein kann, im Zeitalter der modernen “Schulmedizin” zu leben.

Die Geschichte der Fides Franz

Was das eine mit dem anderen zu tun hat, erschließt sich durch einen Blick auf eine alte Infotafel im Innern der Kapelle, die die Geschichte der Stifterin erzählt:

“Die Schwabenhofbäuerin Fides Franz, geb. Tröscher, Tochter des Josef Tröscher und der Monika Schwab, hat in schwerstem Leid die Kapelle erbauen lassen. Fides Franz hatte innerhalb weniger Jahre ihre sieben Kinder durch ansteckende Krankheiten, wie Diphterie und Scharlach verloren, im Jahre 1871 allein vier, davon zwei in einer Woche. Der Tod nahm ihr das letzte Kind 1874 und kurz danach auch ihren Mann Augustin Franz, den Ratschreiber der Gemeinde Sölden, erst 45 Jahre alt.

In den Jahren 1867 bis 1874 starben überdies die letzten vier auf dem Schwabenhof verbliebenen Geschwister des namens Schwab, ihre Onkel und Tanten. So bewegten sich innerhalb von sieben Jahren zwölf Leichenzüge vom Schwabenhof zum Gottesacker im Schatten der Pfarrkirche.“

Dass man in früheren Jahrhunderten und Jahrtausenden nur mit ziemlich viel Glück erwachsen, geschweige denn alt werden konnte, ist wohlbekannt. So starben zehn der zwanzig (!) Kinder des Komponisten Johann Sebastian Bach (1685 – 1750) noch im Säuglings- oder Kindesalter – eine damals vermutlich recht typische Rate der Kindersterblichkeit. Die damalige Medizin stand den meisten Krankheiten weitgehend hilflos gegenüber – und verschlimmerte das Übel im Zweifel noch.

Heute sind die ursächlichen Krankheiten behandelbar

Die tragische Geschichte der Fides Franz beeindruckt mich persönlich ganz besonders. Vielleicht, weil sie mir trotz 150 Jahren Abstand im Wortsinn nahe steht: Ich radle jeden Tag am Schwabenhof vorbei zur Arbeit, der Weg von unserem Haus zu ihrer Kapelle auf dem Saalenberg ist die übliche Gassi-Route mit unserem Hund. Besonders tragisch fühlt sich ihr Unglück für mich aber auch an, weil es sich erst Ende des 19. Jahrhunderts zutrug, kurz vor den umwälzenden Entdeckungen der modernen Medizin, die ihren Angehörigen das Leben hätten retten können.

Denn Diphterie und Scharlach, die der Bäuerin Kinder, Mann und Geschwister raubten, sind Infektionskrankheiten, die in den letzten hundert Jahren ihren Schrecken dank der modernen Medizin weitgehend verloren haben.

So gilt der ab Ende des 19. Jahrhunderts von Emil von Behring und anderen entwickelte Impfstoff gegen die auch als „Würgeengel der Kinder“ bekannte Diphtherie als eine der ältesten und erfolgreichsten Immunisierungsmaßnahme und Meilenstein der Medizin. Er brachte von Behring den allerersten Nobelpreis für Medizin, einen Adelstitel und den Beinamen „Retter der Kinder“ ein.

Wenig später legte Paul Ehrlich den Grundstein für die moderne Antibiotika-Therapie. Sein Schmalspektrum-Antibiotikum Arsphenamin erlaubte erstmals eine effektive Therapie der damals weit verbreiteten Syphilis. Noch wichtiger wurde das 1928 von dem Briten Alexander Fleming in Schimmelpilzen entdeckte Breitband-Antibiotikum Penicillin.

Antibiotika und Impfungen stehen stellvertretend für eine lange Liste revolutionärer Entwicklungen in der Medizin des 20. Jahrhunderts, dank derer beispielsweise der Anteil der Kinder, die innerhalb der ersten fünf Lebensjahre sterben, in Deutschland heute bei weniger als einem halben Prozentpunkt liegt.

Die Moral aus der Geschichte

Umso unverständlicher finde ich, wie viele Menschen heute auf diese moderne, wissenschaftsbasierte Medizin als vermeintlich engstirnige, unmenschliche „Schulmedizin“ herabblicken – ein abwertender Begriff, der auf den Homöopathie-Gründer Samuel Hahnemann zurückgeht und später von den Nationalsozialisten übernommen wurde, denen stattdessen eine „rein deutsche Heilkunst“ vorschwebte. Nicht nur wegen dieser historischen Vorbelastung sollte man den Begriff „Schulmedizin“ und sein vermeintlich besseres Gegenstück „Alternativmedizin“ am besten gar nicht mehr oder nur noch in Anführungszeichen nutzen. Der dadurch aufgemachte Gegensatz existiert so einfach nicht, es kommt lediglich darauf an, ob eine Therapie nachweislich wirkt oder nicht.

Natürlich läuft in unserer real existierenden Gesundheitsversorgung auch so manches schief. Doch in Zeiten von Impfskepsis und pauschaler Ablehnung der „Schulmedizin“ würde vielen Mitmenschen eine kleine Wallfahrt zur Saalenberg-Kapelle mit Lektüre der kleinen Infotafel sicher guttun. Wenn das in manchen Köpfen zu einer differenzierteren Sichtweise der modernen Medizin führen würde, wäre das Leid der Fides Franz nicht umsonst gewesen. Die überlebte ihre Angehörigen übrigens noch um 15 Jahre und nutze diese Zeit, um Bleibendes zu schaffen, wie die kleine Tafel in der Saalenberg-Kapelle berichtet:

„Die leidgeprüfte tapfere Frau und Bäuerin Fides Franz zerbrach jedoch unter der Wucht der Heimsuchungen nicht. Sie nahm als fromme Marienverehrerin ihre Zuflucht zur Schmerzhaften Mutter Gottes, erwarb hier oben den Platz und ließ auf dem schönsten Aussichtspunkt der Söldener Gemarkung die Marienkapelle erbauen, die am Fest Mariä Geburt, dem 8. September 1875, eingeweiht wurde.“

Infotafel der Saalenbergkapelle in Sölden

Text: Georg Rüschemeyer, Cochrane Deutschland

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