London, House of Parliament

Glückliches Großbritannien: Wenn sich die Politik in die Wissenschaft einmischt – und alles besser wird

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Staatliche Einmischung ins freie Forschen – allein die Vorstellung lässt an deutschen Unis den Angstschweiß ausbrechen. Nicht so in Großbritannien, wo in Sachen Wissenschaft einiges besser läuft als bei uns. Die Insel macht vor, wie eine sinnvolle parlamentarische Kontrolle der Wissenschaft helfen kann, Mißstände in der Forschung schnell abzustellen. Ein Gastbeitrag von Ulrich Dirnagl.

Stellen Sie sich vor, Sie leiden an den Symptomen einer bisher nicht befriedigend behandelbaren Erkrankung. In einer deutschen Uniklinik eröffnet man Ihnen, dass es ein neues, aussichtsreiches Medikament für eine potenzielle Behandlung gibt. Und man bietet Ihnen an, an einer laufenden Studie teilzunehmen.
Im Aufklärungsgespräch erfahren Sie, dass Sie in solch einer Studie mit fünfzig Prozent Wahrscheinlichkeit ein Scheinmedikament – also ein Placebo – erhalten würden, und dass das Studienmedikament – von dem man ja noch nicht weiß, ob es wirkt – eine Reihe von unangenehmen Nebenwirkungen haben könnte. Von Ihrer Teilnahme an der Studie profitieren Sie also möglicherweise gar nicht selbst, vielleicht schadet sie Ihnen sogar. Aber in jedem Fall würden die Ergebnisse der Studie nachfolgenden Patient*innen mit derselben Erkrankung nützen, da sie dann möglicherweise besser behandelt werden können. Sie willigen unter diesen Umständen in die Studienteilnahme ein. Schließlich besteht zumindest die Möglichkeit eines persönlichen Nutzens, und der Nutzen für andere ist sogar garantiert.

Nicht veröffentlichte Studien: Verrat an Teilnehmenden und Gesellschaft

Aber würden Sie an der Studie auch teilnehmen, wenn Sie wüssten, dass die Ergebnisse solcher klinischen Studien häufig gar nicht veröffentlicht werden? Oder erst viele Jahre nach Abschluss? Vermutlich nicht. Leider aber ist genau das die traurige Praxis. Ganz sicher jedoch hätte man Ihnen dies im Aufklärungsgespräch verschwiegen. Randomisierte und kontrollierte klinische Studien (RCT) wie die eben beschriebene sind der Goldstandard, wenn es darum geht herauszufinden, ob ein neues Medikament wirkt oder nicht – oder ob es gar schädlich für die Patient*innen ist. Ein neues Medikament kann nur zugelassen werden, wenn positive Evidenz aus einer, meist sogar mehreren großen RCTs vorliegt. Darin werden die Studienteilnehmenden per Zufall in zwei Gruppen eingeteilt, die entweder eine Scheinbehandlung (Placebo) oder das Studienmedikament erhalten.

Wenn man sich zur Teilnahme an solch einer klinischen Studie entscheidet, hat man somit nicht nur keine Gewissheit, ob man das neue Medikament überhaupt erhält. Zum Zeitpunkt der Studie ist auch unklar, ob das Medikament nützt oder vielleicht sogar schädlich ist. Die Studienteilnahme birgt also ein Risiko, das sich in etwa mit dem potenziellen Nutzen die Waage halten muss (sogenannte „Equipoise“). Nur dann wird die Ethikkommission grünes Licht für die Studie geben.

Viele Studienergebnisse erscheinen erst nach Jahren – wenn überhaupt

In der Aufklärung vor der Studienteilnahme wird all dies den Patient*innen erläutert. Die Teilnahme an der Studie dient also nicht notwendigerweise der eigenen Gesundheit (obzwar das natürlich nicht ausgeschlossen ist) – sondern man geht insbesondere ein Risiko zum Nutzen späterer Generationen von Menschen mit derselben Krankheit ein. Die Studienteilnahme ist damit ein altruistischer Akt. Was aber, wenn die Ergebnisse dieser Studien gar nicht oder erst stark verzögert veröffentlicht werden? Dann hätten die Studienverantwortlichen die Patient*innen getäuscht, und diese umsonst ein Risiko auf sich genommen. Deshalb fordern sowohl die Europäische Union wie auch die WHO, dass die wichtigsten Studienergebnisse innerhalb von zwölf Monaten nach Abschluss der Studie veröffentlicht werden müssen. Bei Studien an Kindern beträgt diese Frist sogar nur sechs Monate. Daher ist es schockierend, dass die Mehrzahl der klinischen Studien an medizinischen Universitäten in Deutschland nicht fristgerecht, sondern oft erst viele Jahre später veröffentlicht werden – nicht selten aber auch gar nicht.

Ich will klar sein: Das ist unethisch, das ist ein Verrat am Altruismus all jener, die an Studien teilnehmen.

Deutsche Unis sitzen auf Studienergebnissen

Entgegen ihrem schlechten Ruf hält sich übrigens die Pharmaindustrie in den von ihr organisierten Studien überwiegend an diese Regeln – vermutlich aus Angst vor rechtlichen und finanziellen Konsequenzen sowie einem möglichen Imageschaden. Ganz anders sieht das bei den medizinischen Universitäten aus, die in Studien die Wirksamkeit von Therapien untersuchen, die in ihren Laboren entwickelt oder von ihren Klinikern erdacht wurden. Das wissen wir so genau, weil Ben Goldacre von der Universität Oxford, der Autor des Klassikers „Die Pharmalüge“ („Bad Pharma“), sogenannte „Trial Tracker“ ins Netz gestellt hat – beispielsweise den „EU Trials Tracker“ für das European Union Clinical Trials Register (EUCTR). Diese fungieren seitdem als eine Art digitaler Pranger, mit dessen Hilfe sich ein jeder davon überzeugen kann, wie gut oder wie schlecht eine Firma oder akademische Einrichtung im Veröffentlichen ihrer klinischen Studienergebnisse ist.

Stöbert man in solch einem Trial Tracker, fällt einem bald auf, dass die britischen Universitäten hier ausgezeichnet abschneiden: Beim Veröffentlichen der Ergebnisse fast all ihrer Studien bleiben sie im vorgeschriebenen Zeitrahmen. Die deutschen Studien schneiden dagegen viel, viel schlechter ab. Was im Übrigen auch mein Kollege Daniel Strech in einer sehr detaillierten Studie nachgewiesen hat, in der er sich alle 36 deutschen medizinischen Universitätszentren vorgenommen hatte.

Die Briten zeigen, wie es funktionieren kann

Aber woran liegt es, dass die britischen Unis ihre wichtigsten Studienergebnisse fast immer zeitnah veröffentlichen – und die deutschen nicht? War das etwa schon immer so?

English Breakfast und eine ziemlich effiziente Forschungskultur – in manchen Dingen sind die Briten zu beneiden!

Nein. Noch vor ein paar Jahren handelten die britischen Unis genauso „unethisch“ wie die deutschen! Allerdings hat sich in England dann die Politik des Problems angenommen und die Unis ganz einfach dazu verdonnert, ihre Studienergebnisse zeitgerecht und vollständig zu berichten. Und das ging so: Das britische Parlament hält sich eine Reihe von sogenannten „Select Committees“, eines davon ist das „Science and Technology Committee“ des Unterhauses. Dessen Aufgabe ist es, darauf zu achten, dass die Politik und die Entscheidungsfindung der Regierung auf soliden wissenschaftlichen Erkenntnissen und Ratschlägen beruhen.

Wie in Deutschland ist auch in England der Staat direkt oder indirekt ein wesentlicher Geldgeber der klinischen Forschung. Diese ist recht teuer, kann viel Nutzen bringen – es kann aber auch einiges schiefgehen. Der englische Staat achtet daher darauf, ob seine Fördermittel effektiv, effizient und ethisch eingesetzt werden.

Unter anderem ausgelöst durch eine im British Medical Journal veröffentlichte Studie des schon erwähnten Ben Goldacre setzte das „Science and Technology Committee“ um 2018 herum die skandalöse, da verzögerte oder gar ganz ausbleibende Veröffentlichung von klinischen Studienresultaten auf seine Tagesordnung. Schon 2013 hatte sich das Committee des Themas angenommen – und schöpfte einen ersten Verdacht. Doch beließ man es damals noch bei der Veröffentlichung eines mahnenden Berichts.

Parlamentsfernsehen mit Spaßfaktor

Also hörte man sich abermals die führenden Expert*innen zum Thema an und lud zudem die wichtigsten Vertreter*innen von Universitäten ein, die klinische Studien durchführen. Das Ganze wurde, wie fast alle Sitzungen dieser Unterhaus-Committees, live im Fernsehen übertragen und danach auf einem YouTube-Kanal archiviert. Es ist durchaus sehenswert, wie sachkundig, parteiübergreifend und direkt die Parlamentarier*innen hier zur Sache gingen. So macht selbst Parlamentsfernsehen Spaß! Die Protokolle dieser Anhörungen wurden samt der Resultate aus den Diskussionen als „Report“ ins Netz gestellt. Und man höre und staune: Die Politik hat den Unis daraufhin das Messer an die Brust gesetzt. Entweder ihr löst das Problem innerhalb von sechs Monaten, oder wir überdenken die staatliche Förderung eurer Institutionen! Der Rest ist Geschichte. Die Unis veröffentlichten alle überfälligen Ergebnis-Reports in den zugehörigen, für jeden zugänglichen Studienregistern – und sind seither auch nicht mehr rückfällig geworden. Ich war beeindruckt.

Auch bei anderen Themen, die sich der Ausschuss auf den Tisch gezogen hatte – wie zum Beispiel die britische Corona-Wissenschaft. Spätestens da wurde ich zum „Binge-Viewer“ des britischen Parlamentsfernsehens. Was für eine Transparenz! Was für ein Sachverstand! Was für eine No-Nonsense-Debattenkultur! Derzeit befasst sich das Committee übrigens mit einem meiner Lieblingsthemen: „Reproducibility and Research Integrity“ – Reproduzierbarkeit und Integrität von Forschung. Nach einem Aufruf, bei dem alle Brit*innen ihre Sichtweise einbringen konnten, hat das Komitee nun schon zweimal – und natürlich öffentlich – getagt und schloss dabei alle wichtigen Stakeholder ein – also die Unis, die Verlagshäuser, die Fördergeber sowie führende Kritiker*innen des gegenwärtigen Wissenschaftssystems. Auch junge Wissenschaftler*innen kamen in den Anhörungen zu Wort und brachten so die unter dem Hashtag #IchbinHanna in den sozialen Medien geführte Debatte um ihre oft prekären Arbeitsbedingungen ins Parlament.

Und was soll ich sagen: Manchmal taten mir die in den Sitzungen peinlich Befragten richtig leid. Zum Beispiel die Vertreterin eines wissenschaftlichen Verlagshauses, die von den Parlamentariern mit lauter richtigen Fragen und Argumenten regelrecht an die Wand genagelt wurde.

Politikberatung im Deutschen Bundestag: Weniger erfreulich

Angesichts dessen stellt sich nun unmittelbar die Frage, wie das in Deutschland mit der wissenschaftlichen Politikberatung für den Deutschen Bundestag läuft? Kümmert es die Politik, wie Forschungsmittel eingesetzt werden? Was macht eigentlich der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung des Deutschen Bundestages? Haben Sie von dem schon mal gehört? Und wissen Sie, was der mit seinen 38 Mitgliedern so macht?

Beflügelt von den „englischen Verhältnissen“ sowie unterstützt durch die Lobbyisten von Wikimedia hatte ich es in der letzten Wahlperiode sogar zu einem Termin beim Vorsitzenden dieses Ausschusses gebracht. Mein Ziel: Aufmerksamkeit in der Politik zu schaffen für die ausbleibende oder verzögerte Veröffentlichung von klinischen Studienresultaten. Schließlich hatten die Untersuchung von Daniel Strech, der Trial Tracker von Ben Goldacre und die Aktivitäten von Till Bruckner von Transparimed die ganze Misere in Deutschland im Jahr 2019 gerade offengelegt.

Hatte mein Vorstoß irgendwelche Konsequenzen? Etwa eine Befassung des Ausschusses mit dem Thema? Immerhin sind das Bundesministerium für Bildung und Forschung und die Deutsche Forschungsgemeinschaft die Geldgeber von klinischen Studien an deutschen Universitäten – da müsste doch der Staat ein Interesse haben, das in Ordnung zu bringen. Leider komplette Fehlanzeige. Nichts ist passiert.

Wenn man sich die Protokolle der Sitzungen dieses Bundestagsausschusses anschaut, wird einem auch klar, warum das so war. Im Ausschuss geht es bei marginalem Sachverstand ganz wesentlich um Parteipolitik. Partei A bringt einen Antrag ein – Partei B (Opposition) bringt diesen dann zu Fall. Mal A den Antrag von B, mal B den Antrag von A. Wieder und wieder. Das Ganze ist zudem total intransparent, da die Sitzungen fast ausschließlich nicht-öffentlich und die Sitzungsprotokolle wenig informativ sind.

Gibt es denn vielleicht ein anderes parlamentarisches Gremium in Deutschland, das sich mit solchen Themen befassen würde? Mir ist jedenfalls keines bekannt – und wenn, dann hätte es keinen Einfluss.

Was passiert mit all den Forschungsgeldern?

Interessiert sich in Deutschland überhaupt irgendjemand dafür, ob das Geld, das in die Forschung fließt, verantwortungsvoll eingesetzt wird? Ob die Ergebnisse aus öffentlich geförderten Projekten anderen Forschern und der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden? Ob sie überhaupt veröffentlicht werden, oder dass die Publikationen aus solchen Studien hinter Paywalls verschwinden? Und weiter: Interessiert es jemanden, ob die Corona-Maßnahmen des Bundes und der Länder evidenzbasiert und effektiv waren? Und was man in (oder vor) der nächsten Pandemie besser machen könnte? Corona-Expertenrat der Bundesregierung und Sachverständigenrat des Bundesgesundheitsministerium machen gerade vor, was alles schief laufen kann, wenn man sich nicht an evidenzbasierte Regeln für wissenschaftliche Politikberatung hält: Zwei Gremien gleichzeitig, intransparente Auswahl der Mitglieder, fehlende Abdeckung wesentlicher Fächer, potentielle Interessenkonflikte, kein evidenzbasiertes Vorgehen, usw.

Solange wir dieses Interesse der Politik hierzulande nicht haben, bleibt nur der neidvolle Blick zu den glücklichen Briten. Immerhin können wir im Internet deren Parlaments-Sendungen verfolgen und die Kommissionsberichte herunterladen. Da stehen schlaue Sachen drin, und einiges davon lässt sich auch ohne Politik umsetzen. Bei der Veröffentlichung klinischer Studienresultate geschieht das gerade tatsächlich. Die deutschen Unis werden langsam besser. Sie beginnen, dem englischen Beispiel zu folgen.

Autor: Ulrich Dirnagl forscht an der Abteilung für experimentelle Neurologie an der Berliner Charité zum Thema Schlaganfall. Gleichzeitig bemüht er sich als Direktor des „QUEST Center for Responsible Research“ des Berlin Insitute of Health, biomedizinische Forschung vertrauenswürdiger, nützlicher, und ethischer zu machen. Dieser Text erschien ursprünglich im Rahmen einer Serie von Kolumnen im Laborjournal und wurde von Autor und Redaktion angepasst. (Foto: Wikipedia, Dr. Ulrike Lachmann)

Weiterführende Literatur und Links finden sich auf der Webseite des Autors.

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