Erdkugel beim Arzt, Symbolbild Klimakrise und Gesundheit

Klimakrise, Gesundheit und EbM: Nachlese vom EbM-Kongress

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Ende März traf sich das Netzwerk Evidenzbasierte Medizin in Potsdam, um über „Klima und Gesundheit“ zu diskutieren. Unsere Klima-Korrespondentin Annika Ziegler war dort und schildert in dieser Nachlese ihre Eindrücke.

Der diesjährige Kongress des Netzwerks Evidenzbasierte Medizin stand unter dem Motto „Klima und Gesundheit“, das wir hier kürzlich schon ausführlicher berichtet haben. In verschiedenen Formaten, von Poster-Präsentationen über Workshops und Vorträge bis hin zu Keynotes und Symposien mit nationalen sowie internationalen Sprecher*innen widmete sich die deutschsprachige EbM-Community der größten Gesundheitskrise unserer Zeit: der Klimakrise.

Einerseits ging es dabei um übergeordnete Fragen: Wo liegen überhaupt die Schnittpunkte von Gesundheitsversorgung und dem Kampf gegen die Klimakrise und ihre Folgen? Welche Rolle kann speziell die EbM übernehmen? Eine zentrale Botschaft: Die Gesundheitsversorgung ist weltweit für schätzungsweise 4,4 Prozent der Nettoemissionen von Treibhausgasen verantwortlich. In Deutschland liegt der Anteil sogar bei mehr als 5 Prozent. Hilfreich für das Verständnis waren auch das Konzept der „Planetary Health“ oder die Einteilung von Zusammenhängen zur Klimakrise in die Säulen Impact (Auswirkung), Mitigation (Abschwächung) und Adaptation (Anpassung).

Was ist Klimasensibilität?

Andererseits offenbarten sich bereits konkrete Handlungsmöglichkeiten für die EbM. In einem Workshop zu Klimasensibilität in medizinischen Leitlinien wurde darüber diskutiert, ob und wie man das Thema Klima in Handlungsempfehlungen für die medizinische Praxis berücksichtigen sollte. Als konkretes Beispiel aus dem Bereich Mitigation diente die S1-Leitlinie „Klimabewußte Verordnung von Inhalativa“. Sie stellt pulverbasierte Inhalatoren jenen mit klimaschädlichen Treibmitteln (Dosierinhalatoren) gegenüber und berechnet CO2-Einsparpotenziale. Nun sind S1-Leitlinien zunächst einmal Expertenbasiert. Für eine evidenzbasierte Leitlinie müssten CO2-Einsparpotenziale, Wirksamkeit und Sicherheit verschiedener Behandlungsoptionen nach EbM-Methodik möglichst aktuell systematisch untersucht und bewertet werden. Aber was spricht dagegen, bei der Recherche und der Ableitung von Empfehlungen das Kriterium der Klimasensibilität einzubeziehen?

Doch was tun, wenn sich die klimaschädlichste Variante einer Therapie als die medizinisch bessere herausstellt? Zu welchen Kompromissen wären wir zugunsten des Klimas bereit? Außerdem setzt dieser Ansatz voraus, dass auch die einbezogenen Studien selbst Angaben zum CO2-Verbrauch machen. Ansonsten müsste man auf indirekte Evidenz zurückgreifen. Hier gibt es noch viel Diskussionsbedarf, aber eben auch Gestaltungsmöglichkeiten.

In einem Workshop der AG Klimawandel und Gesundheit am Ende des Kongresses diskutierten Kongressteilnehmende über zukünftige Aufgaben, Verantwortung und Herausforderungen der EbM. Dabei wurde deutlich, dass zwar Verantwortungsbewusstsein und Bereitschaft besteht, sich dem Thema anzunehmen – immerhin wurde ihm ein ganzer Kongress gewidmet. Der Wirkungsbereich und seine Grenzen für die EbM sind aber immer noch längst nicht klar. Die EbM möchte ihren Beitrag leisten, aber wie? Die Leitlinie zu klimafreundlichen Inhalatoren ist ein konkretes Beispiel, anhand dessen Handlungsoptionen klarer werden. Aber eben auch noch eines der wenigen, die man aktuell findet.

…und was Transdisziplinarität?

Die Diskussion läuft längst auch bei Cochrane. Auch für uns wird die Transdisziplinarität entscheidend sein, von der während des Kongresses oft die Rede war. Wollen wir beispielsweise herausfinden, welche Hitzeschutzkonzepte (Stichwort Adaptation) besonders effektiv die Zahl hitzebedingter Todesfälle verringern, müssen Studien zu Public Health Interventionen zusammengefasst und Daten von Institutionen öffentlicher Gesundheitsdienste ausgewertet werden. Viele weitere Beispiele sind denkbar. Die Aufgabe der nächsten Monate wird es sein, den Rahmen festzulegen, in dem wir aktiv werden wollen. Wir brauchen Themen, Fragestellungen und letztlich konkrete Projekte, um vom Diskutieren ins praktische Handeln zu kommen und Cochrane auf Klimakurs zu schicken. Gleichzeitig müssen wir uns neuen methodischen Herausforderungen stellen und uns mit entsprechenden Partner*innen aus Wissenschaft, Praxis und Politik vernetzen. Wie das im Einzelnen funktionieren kann, konnte der Kongress in Potsdam sicher nicht abschließend beantworten. Aber die Diskussion ist angestoßen.


Text: Annika Ziegler ist Ergotherapeutin und Gesundheitswissenschaftlerin. Sie arbeitet aktuell als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Evidenz in der Medizin am Universitätsklinikum Freiburg und ist Mitglied der AG Klimawandel im Netzwerk für Evidenzbasierte Medizin.

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