Leitlinien sind Leitplanken für Entscheidungen

Lebende Leitlinien – Evidenz im Turbomodus

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Medizinische Leitlinien sollen Ärzt*innen und Patient*innen als Leitplanken für angemessene, evidenzbasierte Behandlungsentscheidungen dienen. Dafür müssen sie den aktuellen Stand der Wissenschaft widerspiegeln. Doch in der Praxis veralten Leitlinien fast so schnell wie die Milch im Kühlschrank. Stets aktuelle, „lebende“ Leitlinien könnten eine Lösung sein. Was das ist, warum man dafür ebenso lebende systematische Übersichtsarbeiten braucht und wie das Forschungsprojekt DEAL versucht, beides zusammenzubringen, beschreibt hier Gastautorin Gina Bantle.

Wenn wir zu unserem Arzt oder unserer Ärztin gehen, erwarten wir, dass die empfohlenen Behandlungen auch den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen entsprechen. Doch das ist leichter erwartet, als erfüllt. So gibt es in Deutschland mehr als 100 000 zugelassene Arzneimittel, allein im Jahr 2022 kamen 49 neue Medikamente hinzu. Zudem geht der wissenschaftliche Fortschritt mit einer enormen Informationsflut einher: Allein im Bereich Biomedizin erscheinen jedes Jahr rund eine Million wissenschaftliche Publikationen – das entspricht rund zwei „Papers“ pro Minute, tagein, tagaus. Systematische Reviews wie die von Cochrane sind ein wichtiges Mittel, diese Flut zu kanalisieren. Doch auch deren Zahl wächst beständig, Praktikern fehlt im klinischen Alltag oft einfach die Zeit, sich damit zu beschäftigen.

Damit sich Ärzt*innen trotzdem schnell auf den aktuellen Stand des Wissens über die optimalen Behandlungen für ihre Patient*innen bringen können, gibt es medizinische Leitlinien. Sie bieten Kliniker*innen einen systematisch entwickelten Wegweiser, um im klinischen Alltag die richtigen Entscheidungen zu treffen. Dabei sollten sie die Entscheidungsfreiheit von Arzt und Patient nicht zu sehr einengen – man kann sie eher mit Leitplanken vergleichen, die zwar die Richtung vorgeben, aber offenlassen, auf welcher Spur man fahren möchte.

Leitlinien: Leitplanken für Entscheidungen

Leitlinien sind in Deutschland eine zentrale Grundlage für evidenzbasierte Gesundheitsentscheidungen. Sie helfen dabei, die Qualität der Gesundheitsversorgung zu verbessern, indem sie das Erfahrungswissen von Ärzten und Ärztinnen mit neuesten Forschungsergebnissen zusammenbringen. Das bedeutet, dass Entscheidungen nicht nur auf reiner Intuition oder Tradition basieren, sondern auf wissenschaftlichen Studien. Leitlinien geben Empfehlungen zur Behandlung bestimmter Krankheiten und helfen Ärzt*innen, Patient*innen und allen Anderen im Gesundheitswesen, optimale Entscheidungen zu treffen.

In Deutschland ist die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) zusammen mit dem Ärztlichen Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ) dafür zuständig, Leitlinien zu erstellen. Dabei gibt es vier verschiedene Entwicklungsstufen, von S1 bis S3 (siehe Kasten).

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Die vier Stufen der Evidenzbasierung: Klassifikation von Leitlinien nach dem AWMF-Regelwerk

S1-Leitlinie: Diese erste Leitlinien-Variante wird von Expert*innen erstellt, die sich informell einigen. Sie sammeln und bewerten Wissen dabei nicht systematisch – S1-Empfehlungen gelten daher nicht als evidenzbasiert.

S2k-Leitlinie: Das „k“ steht für „Konsens“. Hier findet eine formelle Einigung zwischen den Expert*innen statt, das Wissen wird aber ebenfalls nicht systematisch gesammelt und bewertet. Daher gelten auch diese Empfehlungen als nicht besonders zuverlässig.

S2e-Leitlinie: Dieser dritte Typ beinhaltet eine systematische Recherche von wissenschaftlicher Evidenz. Bei unterschiedlichen Meinungen gibt es jedoch keinen strukturierten Prozess für eine Einigung.

S3-Leitlinie: Diese „Königsklasse“ unter den Leitlinien durchläuft alle Schritte der systematischen Entwicklung und es gibt ein geregeltes Verfahren, um bei unterschiedlichen Einschätzungen zu einer einheitlichen Empfehlung zu kommen. S3- Leitlinien sind am verlässlichsten, sie erfordern aber auch den größten Aufwand.

Damit Leitlinien auf dem neuesten Stand bleiben, müssen sie vom jeweiligen Leitlinienteam regelmäßig aktualisiert werden. Bisher gilt dafür in Deutschland die Regel: Spätestens nach fünf Jahren sollte ein Update erscheinen. Tatsächlich entsteht ständig neues Wissen. Insbesondere bei intensiv beforschten Themen können Empfehlungen einer Leitlinie daher schon deutlich früher überholt sein. Das bedeutet: Relevante neue Evidenz gelangt erst verspätet in die Versorgungspraxis.

Leitlinien zum Leben erwecken

Aus diesem Grund diskutieren Expert*innen seit einigen Jahren vermehrt den Ansatz der „lebenden Leitlinie“. Er bedeutet, dass Leitlinien (bzw. einzelne Empfehlungen daraus) mehr oder minder kontinuierlich überarbeitet werden. In der Praxis bedeutet dies: sehr viel regelmäßiger, beispielsweise halbjährlich. Lebende Leitlinien sind besonders sinnvoll in Bereichen, in denen die Forschung schnell voranschreitet. Durch die regelmäßige Überprüfung und Aktualisierung bleiben sie immer auf dem neuesten Stand und können sich an veränderte Bedingungen anpassen.

Allerdings können Leitlinien nur so „lebend“ und aktuell sein, wie die systematischen Übersichtsarbeiten, die in der Regel den größten Teil ihres Evidenz-Fundaments bilden. Und auch diese können – besonders in Fachgebieten mit hoher Forschungsaktivität (Stichwort: Corona-Pandemie) schnell überholt sein. Um dieses Problem zu lösen, hat eine Gruppe internationaler Wissenschaftler*innen schon vor einigen Jahren den Ansatz des „Lebenden systematischen Reviews“ (LSR) initiiert. Auch LSRs werden im Gegensatz zu herkömmlichen systematischen Reviews kontinuierlich (bzw. in kurzen, regelmäßigen Abständen) aktualisiert.

In der Theorie sind lebende systematische Übersichtsarbeiten also die optimale Grundlage für lebende Leitlinien. In der Praxis stößt dieses Konzept allerdings auf eine Reihe von Herausforderungen. Beispielsweise gibt es in Deutschland bisher keine methodisch einheitliche Herangehensweise für die Erstellung von lebenden Leitlinien. Und auch gezielte Kooperationen zwischen Leitliniengruppen und Institutionen, die systematische Übersichtsarbeiten erstellen, fehlen bisher weitgehend.

Ein DEAL für bessere Leitlinien

Genau an dieser Stelle setzt das kürzlich abgeschlossene Projekt DEAL (Dynamische Evidenzaktualisierung für Aktuelle Leitlinienempfehlungen) an. Das vom Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) geförderte Projekt wurde in Kooperation mit dem Institut für Evidenz in der Medizin (IfEM) am Universitätsklinikum Freiburg, dem Ärztlichen Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ), dem AWMF-Institut für Medizinisches Wissensmanagement (AWMF-IMWi) und dem Robert-Koch-Institut (RKI) durchgeführt.

Ziel der umfangreichen Machbarkeitsstudie war es, beispielhaft anhand von drei konkreten Fragestellungen aus der Medizin die Erstellung von lebenden Reviews und lebenden Leitlinien miteinander zu verzahnen. So soll sie neue Wege erschließen, die Aktualität von deutschen Leitlinienempfehlungen künftig näher an das Ideal einer lebenden Leitlinie zu bringen.

Wie man Leitlinien zum Leben erweckt

Dafür wählte das DEAL-Team in einem ersten Schritt drei exemplarische Leitlinienempfehlungen aus, die einem besonders hohen Aktualisierungsbedarf unterliegen, beispielsweise weil zum Thema noch größere Forschungslücken bestehen oder weil die Forschung besonders dynamisch ist. Am Ende fiel die Wahl auf diese drei Themen:

  • Sacubitril/Valsartan und SGLT-2-Inhibitoren bei Erwachsenen mit Herzinsuffizienz
  • COVID-19-Impfstoffe bei Kindern
  • E-Zigaretten zu Raucherentwöhnung bei Patienten mit chronischer obstruktiver Lungenerkrankungen (COPD)

In einem zweiten Schritt wurden drei lebende systematische Übersichtsarbeiten entwickelt, um diese Leitlinien möglichst regelmäßig nach dem neuesten Stand der Evidenz zu aktualisieren. Die lebenden Übersichtsarbeiten wurden alle drei Monate aktualisiert und ihre Ergebnisse für die jeweilige Leitliniengruppe aufbereitet. Diese diskutierte in einem dritten Schritt die neue Evidenz und entschied schließlich über die Notwendigkeit einer Empfehlungsänderung.

Der „DEAL-Prozess“

Eine Frage des Prinzips

Von den drei erstellten lebenden Übersichtsarbeiten wurde bisher zwar erst die zu COVID-19-Impfstoffen publiziert. „Bei DEAL ging es aber gar nicht primär um die exemplarisch ausgewählten Themen. Wichtiger war die Frage, ob und wie die Erstellung von lebenden Leitlinien in der Praxis überhaupt umsetzbar ist“, sagt Projektkoordinatorin Valérie Labonté vom Institut für Evidenz in der Medizin (IfEM) am Universitätsklinikum Freiburg. Dafür wurde während der Erstellung der drei LSRs die praktische Umsetzbarkeit erfasst. So erhoben die beteiligten Wissenschaftler*innen den Zeitaufwand für die Erstellung der LSRs, um herauszufinden, ob LSRs auch unter Routinebedingungen für die Aktualisierung von lebenden Leitlinien anwendbar sind. Zudem führten sie mit beteiligten Review- und Leitliniengruppen Telefoninterviews durch, um die Qualität der Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Akteuren zu evaluieren.

Ein weiteres Teilprojekt erstellte eine Liste von Kriterien für die Identifizierung von besonders aktualisierungsbedürftigen Leitlinienempfehlungen. Diese Liste befindet sich aktuell in der Erprobungsphase. Sie soll später in der Praxis als Entscheidungsgrundlage für die Erstellung lebender Leitlinien dienen.

Die Erfahrungen des DEAL-Projektes gehen nun in einen Leitfaden ein, der über die Webseiten von AWMF und Cochrane zugänglich sein wird. Die große Hoffnung des DEAL-Teams ist es, damit die Erstellung von lebenden Leitlinien in Deutschland zu erleichtern – damit wir uns in Zukunft darauf verlassen können, dass Entscheidungen beim Arzt auch wirklich auf dem aktuellen Stand der Evidenz basieren.


Text: Gina Bantle, Institut für Evidenz in der Medizin (IfEM) am Universitätsklinikum Freiburg

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