Eröffnung des 3. Symposiums der Cochrane Deutschland Stiftung "Wie kann evidenzbasierte Gesundheitspolitik gelingen?"

Wie kann evidenzbasierte Gesundheitspolitik gelingen?

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Klingt nach einer Binsenwahrheit: In einer modernen, aufgeklärten Gesellschaft sollte sich die Politik wissenschaftlicher Erkenntnisse bedienen, um gute Entscheidungen zu treffen. Das gilt insbesondere in der Gesundheitsversorgung, deren Fragen sich prinzipiell gut mit den Mitteln der Wissenschaft untersuchen lassen. Dass es mit der Evidenzbasierung politscher Entscheidungen jedoch oft nicht weit her ist, hat zuletzt die Corona-Pandemie schmerzhaft klar gemacht. Grund genug, das hochkarätig besetzte dritte Symposium der Cochrane Deutschland Stiftung unter das Motto „Wie kann evidenzbasierte Gesundheitspolitik gelingen?“ zu stellen.

„Wie kann evidenzbasierte Gesundheitspolitik gelingen?“ – So lautete die Leitfrage des dritten Symposiums der Cochrane Deutschland Stiftung (CDS), zu dem sich am 11. und 12. Mai mehr als 120 Teilnehmende im Tagungszentrum „Etage“ in Freiburg versammelten. Das Thema ist hoch aktuell, wie die Corona-Jahre zweifelsohne gezeigt haben, auch wenn die Pandemie nur in wenigen Vorträgen die zentrale Rolle einnahm.

Wie also funktioniert das Zusammenspiel von Wissenschaft und Politik in Theorie und Praxis? Wie können die beiden Sphären besser zusammenarbeiten, anstatt wie zwei Raumschiffe nebeneinander her zu fliegen, wie es Minister Karl Lauterbach in einem Video-Grußwort ausdrückte? Nach Antworten suchten die zwölf Vortragenden in halbstündigen Präsentationen, die jeweils von einer kurzen, von Monika Lelgemann (G-BA) souverän moderierten Diskussionsrunde gefolgt wurden.

Die Diagnose des Grundübels

Den Auftakt machte Jürgen Windeler, bis vor Kurzem Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, mit einem Zustandsbericht aus deutschen Landen. Dass es das 2004 gegründete IQWiG überhaupt gibt, ist eigentlich ein Erfolg für alle, die Evidenzbasierung in der Gesundheitsversorgung fordern. Doch Windeler zeigte auch die erheblichen Schwächen in der derzeitigen Praxis auf mitsamt einer überzeugenden Diagnose des Grundübels: In Deutschland dürfe alles, was als vermeintliche Innovation gewisse Mindestanforderungen erfüllt, erst einmal rein ins Gesundheitssystem. Erst dann werde die Frage nach dem wahren Nutzen gestellt. Falle die negativ aus, sei es aber extrem schwer, einmal Etabliertes wieder los zu werden.

Das mangelnde Interesse an Evidenz zeige sich hierzulande auch in der Forschung selbst, so Windeler. Während Grundlagen- und industrienahe Forschung gut aufgestellt seien, mangele es in Deutschland an Anreizen und Förderung für gute herstellerunabhängige klinische Studien. Entsprechend ernüchternd sei daher auch der deutsche Beitrag zur klinischen Forschung in Sachen COVID-19 gewesen – etwa im Vergleich zur britischen „Recovery“-Studie, die binnen weniger Wochen nach Pandemiebeginn tausende Patienten rekrutiert und erste stichhaltige Ergebnisse veröffentlicht hatte.

„Die Wissenschaft hat festgestellt…“

Der Beschreibung des Ist-Zustandes widmeten sich auch Tina Vogel vom Bundesgesundheitsministerium und Jörg Meerpohl, Direktor von Cochrane Deutschland. Vogel skizzierte vor allem den Weg (gesundheits-) politischer Entscheidungen in Deutschland und die Rolle des BMGs dabei. Meerpohls Leitfrage war, was die Wissenschaft der Politik anbieten kann. Das sei eigentlich eine ganze Menge, nur müsse die Wissenschaft ausgerechnet bei einigen Kernbedürfnissen der Politik passen. Denn Politiker*innen wünschen sich klare Ansagen nach dem Motto „Die Wissenschaft hat festgestellt…“ und zwar sofort und mit Garantie für die Richtigkeit der Ergebnisse. Dass Wissenschaft dagegen ein Prozess der langsamen Annäherung an „die Wahrheit“ ist, ein allmähliches Verkleinern von Unsicherheiten – das ist Politik und Öffentlichkeit oft nur schwer zu vermitteln.

Ein Positivbeispiel, wie Wissenschaft und Praxis mit Unterstützung der Politik zusammenkommen können, sei das aus Freiburg koordinierte und vom BMBF geförderte Forschungsprojekt CEOsys gewesen, an dem neben 20 Universitätskliniken auch Cochrane beteiligt war. Mitten in der Pandemie sammelte und bewertete das „COVID-19-Evidenz-Ökosystem“ die wissenschaftliche Evidenz zu vielen Fragen zu COVID-19 und fasste sie für verschiedene Zielgruppen zusammen. Dass der geförderte Projektzeitraum nur von Herbst 2020 bis Ende 2021 reichte, wirft allerdings schon wieder die Frage auf, wie nachhaltig das Interesse der Politik an guten wissenschaftlichen Informationen wirklich ist.

Nach der ersten Kaffeepause ging es weiter mit einem aus Pandemiezeiten wohl vertrauten Gesicht: jenem von Lothar Wieler, bis März Leiter der des Robert-Koch-Instituts (RKI) in Berlin. Er eröffnete den Block zur Praxis der Politikberatung im Gesundheitswesen mit einer Übersicht über die Rolle des RKI als nationales Public-Health-Institut mit einem klar umrissenen Aufgabengebiet zwischen gezielter Forschung (z.B. Monitoring von Krankheiten), der Kommunikation der Ergebnisse und der eigentlichen Beratung der Politik.

Von Sachverständigenräten und Think Tanks

Erfahrungen aus der Praxis der Politikberatung konnte Gesundheitswissenschaftlerin Gabriele Meyer im „Sachverständigenrat Gesundheit und Pflege“ sammeln – sowohl gute (etwa Empfehlungen des Rats, die dann auch in den aktuellen Koalitionsvertrag eingingen) als auch schlechte (etwa die Schwierigkeiten die Aufmerksamkeit der Politik auf aus Sicht des Sachverständigenrats wichtige Themen zu lenken). Nach ihr stellte dann Ina Kopp die Rolle der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) für die Erstellung medizinischer Leitlinien vor, einer zentralen Schnittstelle zwischen Forschung und Praxis.

Eine neue Perspektive brachte zum Abschluss des ersten Tages Maike Voss ein, die über die Rolle von Think Tanks in der wissenschaftlichen Politikberatung sprach. Ziel solcher Denkfrabriken sei es, neue Ideen zu entwickeln, ohne sich in tagespolitischen Debatten zu verlieren. Als Beispiel diente Voss das von ihr geleitete Centre for Planetary Health, das sich mit dem Themenkomplex Klima und Gesundheit beschäftigt.

Der Freitag war dann dem Blick über den Tellerrand gewidmet, zunächst dem nationalen: Wie steht es um die evidenzbasierte Politikberatung in Gesundheitsfragen in anderen Ländern? Zunächst sprach Brigitte Piso von Cochrane Österreich von der Herausforderung, zuletzt fast jährlich wechselnde Regierungen in unserem süd-östlichen Nachbarstaat wissenschaftlich zu beraten. Nach ihr berichtete Holger Schünemann (McMaster University und Cochrane Canada) von seinen Erfahrungen im internationalen Kontext u.a. als Berater der WHO. Zu seinen spannenden Beispielen gehörte die Geschichte der fehlgeleiteten Nutzung von Bluttests für Tuberkulose in Indien, jenes einer europäischen Krebs-Screening-Leitlinie, deren sorgfältige evidenzbasierte Entwicklung durch unzureichende politische Abstimmung erheblich erschwert wird, oder die Frage, wie man in Kanada indigene Stakeholder in die Leitlinienarbeit involviert und warum die Schwierigkeiten dabei schon mit dem auf Kolonialzeiten zurückgehenden Begriff „Stakeholder“ anfangen.

Der Blick über den Tellerrand

Noch weiter über die Tellerränder blickte das anwesende EbM-Publikum schließlich im letzten Vortragsblock. Hier ging es um die Frage, wie evidenzbasierte Politikberatung in anderen Kontexten aussieht und was man davon lernen kann. Für die Wirtschaftswissenschaften sprach zunächst Regina Riphahn (Uni Erlangen-Nürnberg und Vizepräsidentin der Leopoldina). Sie zeigte Ergebnisse zu einer Umfrage der Leopoldina unter Bundestagsabgeordneten zu deren Informationsquellen und -bedürfnissen, sowie ihrem Vertrauen in die Wissenschaft. Riphahn sieht die wirtschaftswissenschaftliche Politikberatung mit zahlreichen Sachverständigenräten und Wirtschaftsforschungsinstituten generell gut aufgestellt und hatte auch einige Erfolgsgeschichten im Gepäck.

Auch im Klimaschutz, über den anschließend Jan Minx (MCC Berlin) sprach, ist die Verzahnung von Wissenschaft und Politik entscheidend und zumindest auf Ebene des Weltklimarates IPCC durchaus produktiv. Die zwischenstaatliche Institution fasst den Stand der wissenschaftlichen Forschung zum Klimawandel für politische Entscheidungsträger zusammen. Sie soll mit ihren Klimaszenarien Grundlagen für wissenschaftsbasierte Entscheidungen bieten, ohne direkte Handlungsempfehlungen zu geben.

Den Abschluss des Symposiums machte Markus Grill, Investigativreporter von NDR und WDR. Er konzentrierte sich auf die Rolle der Medien in der Corona-Pandemie und die vielen Beispiele, in denen die Politik abseits der wissenschaftlichen Evidenz mit der Öffentlichkeit kommunizierte.

Viel Schatten, aber auch Licht

Was bleibt von den zwölf Vorträgen und den mit großer Offenheit geführten Diskussionen in und vor dem Tagungssaal hängen? Unterm Strich dominierte ein eher ernüchterndes Bild vom Zustand der evidenzbasierten Politikberatung in Gesundheitsfragen: Wissenschaftliche Erkenntnisse sind in der Politik allzu offensichtlich nur ein Entscheidungsfaktor unter vielen, trotz aller anderslautenden Lippenbekenntnisse. Auch der Eindruck, dass sich die Politik am liebsten dann wissenschaftlicher Ergebnisse bedient, wenn diese zur bereits fertigen Meinung passen, blieb aus vielen Vorträgen zurück. Zudem sprechen Politik und Wissenschaft oft unterschiedliche Sprachen, welche die Kluft zwischen den beiden Sphären vergrößern. Ob und wie es dennoch gelingt, hängt oft von einzelnen Köpfen in Schlüsselpositionen ab – und die bleiben gerade in der Politik oft nicht lange genug im Amt, um viel zu bewegen.

Aber auch die Wissenschaft braucht mehr Mut, sich aus ihrem vertrauten Terrain herauszubewegen und politischer zu denken. EbM braucht mehr Mut zum „Lobbyismus“, anstatt nur anteilslos Evidenz auszubreiten. Möglicherweise ist das Glas aber auch voller als man denkt (vielleicht sogar halb voll?). Denn es gab auf dem Symposium ja auch eine ganze Reihe positiver Beispiele, die zeigen: evidenzbasierte Gesundheitspolitik kann durchaus gelingen!

Zu den Video-Mitschnitten der meisten Vorträge des Symposiums.


Text: Georg Rüschemeyer, Cochrane Deutschland

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