„Zählt eure Kinder, wenn die Masern vorüber sind“, besagt ein altes arabisches Sprichwort. Noch heute sind Masern alles andere als eine harmlose Kinderkrankheit. In seltenen Fällen können sie sogar sehr gefährlich werden. Eine kombinierte Impfung gegen Masern, Mumps, Röteln und Windpocken (MMRV) kann uns und unsere Kinder davor bewahren. Was sind das für Krankheiten, vor denen diese Impfung schützt? Wie funktioniert die Impfung? Welche Risiken birgt sie? Ein kürzlich aktualisierter Cochrane Review liefert evidenzbasierte Antworten.
Das hochansteckende Masernvirus löst vor allem bei Kindern die Masernerkrankung aus. Sie zeigt sich üblicherweise zunächst mit Husten, Schnupfen und leichtem Fieber und später mit den für die Krankheit typischen rötlichen Flecken am ganzen Körper und hohem Fieber. Bei knapp einem Drittel der Erkrankten kommt es zu Komplikationen wie Durchfall, Entzündung der Lunge, des Mittelohrs oder seltener auch des Gehirns [1]. Diese Komplikationen können einen sehr gefährlichen Verlauf mit bleibenden Schäden nehmen, bei etwa einem von 1000 Erkrankten führen sie zum Tod [2].
Mumpsviren lösen eine Entzündung der Ohrspeicheldrüsen aus, die sich gelegentlich auch in andere Organe ausbreitet. Bei bis zu einem von 10 Erkrankten kann es zu einer Hirnhautentzündung kommen [3]. Am häufigsten erkranken Kinder und junge Menschen.
Bei einer Erkrankung mit Rötelnviren fühlt sich das betroffene Kind üblicherweise krank und hat die typischen rötlichen Flecken auf der Haut, die der Krankheit ihren Namen geben. Komplikationen sind aber zum Glück sehr selten. Trifft die Erkrankung jedoch Schwangere, so besteht die Gefahr, dass das ungeborene Kind sich fehlentwickelt oder an der Infektion verstirbt (15%) [4].
Das Varizella-Zoster-Virus ruft die als Windpocken (Varizellen) bekannten Hautveränderungen hervor. Wie das Rötelnvirus ist dieser Erreger besonders gefährlich für ungeborene Kinder. Typisch für das Windpocken-Virus ist, dass es sich in Teile des Nervensystems zurückzieht, wo es sich gewissermaßen vor dem eigenen Immunsystem „verstecken“ und ein Leben lang erhalten bleiben kann. Manchmal kommt es dann viel später zu einer Reaktivierung in Form einer Gürtelrose (Herpes Zoster), die sich in Form schmerzhafter Hautausschläge bemerkbar macht.
Vor all diesen Krankheiten können wir uns heute schützen, denn es gibt Impfstoffe.
Wie funktioniert eine Impfung?
Impfstoffe enthalten entweder nicht-infektiöse Bruchstücke des Erregers (Totimpfstoff) oder eine abgeschwächte Version des Erregers, die sich im Körper zwar noch vermehren kann, jedoch nicht die volle Erkrankung auslöst (Lebendimpfstoff). In diese zweite Kategorie fallen auch die Impfungen für Masern, Mumps, Röteln und Windpocken. Beide Impfstofftypen dienen dem gleichen Zweck: Das Immunsystem lernt, den Erreger zu erkennen und kann sich auf den möglichen Ernstfall einer Infektion vorbereiten. Dieses Kennenlernen kann sich mit Fieber oder Abgeschlagenheit als sogenannte Impfreaktion äußern, die tatsächliche Krankheit bleibt uns aber erspart. Unser Immunsystem merkt sich, wie der Erreger aussieht, sodass es bei einem Kontakt mit dem echten Erreger direkt auf sein „Gedächtnis“ zurückgreifen und ihn abwehren kann, ohne dass wir erkranken. Gegen diese Erreger ist unser Körper nun immun: Er kann uns nichts mehr anhaben, weil wir auf ihn vorbereitet sind. Immunität kann man auch durch das Durchmachen der Erkrankung erreichen, allerdings muss man dann die damit einhergehenden Risiken in Kauf nehmen.
Allerdings gilt auch für alle Impfungen die Grundregel der Medizin: Keine Wirkung ohne Nebenwirkungen. Für die MMRV-Impfung beschränken sich diese unerwünschten Wirkungen meist auf harmlose Impfreaktionen an der Injektionsstelle, in sehr seltenen Fällen können sie aber auch schwerwiegender ausfallen. Letztlich gilt es, die Risiken der Impfung mit den Risiken eines natürlichen Krankheitsverlaufs abzuwägen.
Cochrane Review belegt Wirksamkeit der MMRV-Impfung
Ein aktueller Cochrane Review hat bei zehn Millionen Kindern untersucht, wie gut der kombinierte Impfstoff gegen Masern, Mumps, Röteln und Varizellen (MMRV oder MMR+V) vor diesen Krankheiten schützt und mit welchen Risiken dabei zu rechnen ist. Die im Review zusammengefassten Studien zeigen, dass die Impfstoffe nach den empfohlenen zwei Impfungen im Abstand von einigen Monaten 96 Prozent der Geimpften vor einer Masernerkrankung, 86 Prozent vor einer Mumpsinfektion, 89 Prozent vor einer Rötelninfektion und 95 Prozent vor einer Windpockenerkrankung schützen. Die Autoren bewerteten die Vertrauenswürdigkeit der Evidenz für die Wirksamkeit des MMR-Impfstoffs mit Hilfe des in allen Cochrane Reviews verwendeten GRADE-Schemas (sehr niedrig, niedrig, moderat und hoch) als „moderat“.
Welche Risiken sind mit der Impfung verbunden?
Der Cochrane Review untersuchte auch die aufgetretenen Nebenwirkungen. „In diesem Bericht wollten wir uns speziell mit der Evidenz für spezifische Schäden befassen, die in der öffentlichen Debatte mit diesen Impfstoffen in Verbindung gebracht werden – oft ohne streng wissenschaftliche Grundlage“, sagt der Erstautor des Reviews, Carlo Di Pietrantonj vom italienischen Regionalen Referenzdienst für Epidemiologie (SeREMI). In Studien mit insgesamt mehr als 13 Millionen Kindern zeigte sich kein Zusammenhang zwischen der Impfung und einer Reihe von Krankheiten und Symptomen wie Autismus, Hirnentzündungen, Darmerkrankungen, verzögerter kognitiven Entwicklung, Diabetes, Asthma, Hautentzündungen, Heuschnupfen, Leukämie, multipler Sklerose, Gangstörungen, Darmerkrankungen oder Infektionen.
Auch schwere Impfreaktionen wie beispielsweise ein Fieberkrampf gibt es, sie sind aber sehr selten: Die Basis-Wahrscheinlichkeit für ein Kind, bis zum 5. Lebensjahr einen oder mehrere Fieberkrämpfe zu erleben, beträgt ohne Impfung 2-4 %. Durch die MMRV-Impfung kommt ein Risiko von ca. 0,1 % hinzu.
Für Carlo Di Pietrantonj sind die Ergebnisse dieses Reviews eine weitere Bestätigung, „dass die Risiken, die von diesen Krankheiten ausgehen, bei weitem die Risiken der zur Vorbeugung verabreichten Impfstoffe überwiegen“.
Referenz: Di Pietrantonj C, Rivetti A, Marchione P, Debalini MG, Demicheli V. Vaccines for measles, mumps, rubella, and varicella in children. Cochrane Database of Systematic Reviews 2020, Issue 4. Art. No.: CD004407. DOI: 10.1002/14651858.CD004407.pub4.
Eine kurze Geschichte der Impfung am Beispiel von Pocken und Masern
Die folgende Liste gibt einen Einblick in die Geschichte des Impfens. Sie beginnt mit den durch das Pockenvirus ausgelösten Pocken, die schon seit sehr langer Zeit die Menschheit beherrschten. Sie beinhaltet die erste Impfung mit dem Sekret von Kühen und führt über eine skandalöse Studie über angebliche Impfschäden bis in die Gegenwart.
- Bereits in 3000 Jahre alten Pharaonen-Mumien aus Ägypten finden sich Spuren der Pocken [5].
- Vor etwa 1000 Jahren benutzt man in Asien, viel später auch in Europa, das Sekret von Erkrankten, um damit kontrolliert andere Menschen anzustecken (Variolation). Mit dieser Art der Ansteckung geht häufig ein vergleichsweise milder Krankheitsverlauf einher [5].
- 1796: Der englische Landarzt Edward Jenner zeigt, dass er einen Jungen durch die Impfung mit Kuhpockensekret (Vakzination) lebenslang vor der Pockenerkrankung schützen kann [5]. Das Kuhpockensekret enthält einen ähnlichen, jedoch nicht die Pockenkrankheit auslösenden Erreger. Die Bezeichnung Vakzination entstammt von dem lateinischen Wort „vacca“ für Kuh [6].
- Ab dem 19. Jahrhundert wird in Europa in manchen Regionen aufgrund der weit verbreiteten Pocken zum ersten Mal eine Impfpflicht eingeführt [6]. Zeitweise sind die Pocken für ein Drittel aller Erblindungen und jedes zehnte tote Kind in Europa verantwortlich [7].
- 1980: Die Weltgesundheitsorganisation WHO erklärt die Welt dank der flächendeckenden Impfung offiziell für pockenfrei [5].
- 1960: Zurück zu den Masern: Seit den 1960er Jahren gibt es in der BRD einen Impfstoff für Masern [2]. Daraus entsteht der heute verwendete MMRV-Impfstoff.
- 1998: Aufregung um die MMR-Impfung gegen Masern, Mumps und Röteln. Eine Forschungsgruppe um den britischen Arzt Andrew Wakefield veröffentlicht einen Fachartikel, in dem sie bei 12 untersuchten Patienten einen Zusammenhang zwischen der MMR-Impfung und Autismus vermuten [8]. Später kommen Manipulationen der Ergebnisse und erhebliche finanzielle Verflechtungen und Interessenkonflikte Wakefields ans Licht [9], die Fachzeitschrift zieht den Artikel später zurück. Wakefields Ergebnisse konnten nie reproduziert werden, für einen Zusammenhang zwischen MMR-Impfung und Autismus gibt es bis heute keine wissenschaftlichen Belege. Auch die aktuelle Version des Cochrane Reviews zur MMR-, bzw. MMRV-Impfung enthält keinerlei Hinweis auf einen solchen Zusammenhang.
Text: Johanna Gerhards
Quellen:
[1] CDC, „Measles,“ [Online]. Available: https://www.cdc.gov/vaccines/pubs/pinkbook/meas.html. [Zugriff am 03 06 2020].
[2] RKI, „RKI-Ratgeber Masern,“ [Online]. Available: https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Merkblaetter/Ratgeber_Masern.html. [Zugriff am 03 06 2020].
[3] RKI, „RKI-Ratgeber Mumps,“ [Online]. Available: https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Merkblaetter/Ratgeber_Mumps.html. [Zugriff am 03 06 2020].
[4] RKI, „RKI-Ratgeber Röteln,“ [Online]. Available: https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Merkblaetter/Ratgeber_Roeteln.html. [Zugriff am 03 06 2020].
[5] CDC, „History of Smallpox,“ [Online]. Available: https://www.cdc.gov/smallpox/history/history.html. [Zugriff am 03 06 2020].
[6] RKI, „Impfgegner und Impfskeptiker,“ Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, 12 2004.
[7] „WHO Factsheet Smallpox,“ [Online]. Available: https://web.archive.org/web/20070921235036/http://www.who.int/mediacentre/factsheets/smallpox/en/. [Zugriff am 03 06 2020].
[8] A. Wakefield, „Ileal-lymphoid-nodular Hyperplasia, Non-Specific Colitis, and Pervasive Developmental Disorder in Children,“ The Lancet, 1998.
[9] GMC, „FITNESS TO PRACTISE PANEL HEARING 28 JANUARY 2010,“ 2010.
[10] RKI, „RKI-Ratgeber Windpocken,“ [Online]. Available: https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Merkblaetter/Ratgeber_Varizellen.html. [Zugriff am 03 06 2020].
Anmerkung: Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für alle Geschlechter.