Brillen mit einem Blaulichtfilter wirken sich offenbar nicht auf die Belastung der Augen durch Bildschirme oder auf die Schlafqualität aus. Dies ergab eine systematische Übersichtsarbeit der aktuellen Evidenz auf Basis von 17 randomisierten kontrollierten Studien.
Glas oder Kunststoff? Entspiegelt oder nicht? Beim Optiker hat man die Qual der Wahl, nicht nur beim Design des Gestells. Relativ neu im Katalog der zu treffenden Entscheidungen ist die Frage nach einem Blaulichtfilter, der als Zusatzoption mit rund 50 bis 100 Euro zu Buche schlägt. Brillengläser mit einem solchen Filter sollen einen Teil des blauen Lichts blockieren, das von LED-Bildschirmen von Computern und Handys sowie anderen modernen Lichtquellen emittiert wird. Es geht hier also nicht um den allgemeinen Schutz vor intensivem Tageslicht und schädlicher UV-Strahlung, wie ihn gute Sonnenbrillen bieten.
Ist blaues LED-Licht schlecht für die Augen?
Die Theorie hinter den speziellen Filterbrillen: Der erhöhte Blaulicht-Anteil des Kunstlichts soll zur Belastung der Augen führen. Das habe Ermüdungserscheinungen oder gar Schädigungen der Netzhaut zur Folge. Zudem könne künstliches Blaulicht die Ausschüttung des Schlafhormons Melatonin hemmen und sei so einem gesunden Schlaf abträglich.
Tatsächlich beträgt die Menge an blauem Licht, das aus künstlichen Quellen wie Computerbildschirmen in die Augen dringt, normalerweise nur einen Bruchteil dessen, was man über natürliches Tageslicht aufnimmt. Ob die geringe Zusatzdosis Blaulicht wirklich die behaupteten Wirkungen haben kann, ist daher wissenschaftlich umstritten. Physikalisch unstrittig ist, dass entsprechend gefärbte Brillengläser einen mehr oder minder großen Anteil des blauen Lichtes herausfiltern. Die meisten Filter-Gläser auf dem Markt sind transparent, haben aber nur eine geringe Filterwirkung von 10 bis 25 Prozent. Modelle mit starker Wirkung sind dagegen deutlich gelb oder orange gefärbt und beeinträchtigen die Farbwahrnehmung.
Blaulichtfilter in Deutschland
Verbreitung und Annahmen in der Bevölkerung: Gemäß einer jüngst vom Hersteller Zeiss in Auftrag gegebenen Umfrage glaubt gut die Hälfte der rund tausend Befragten, dass blaues Kunstlicht die Augen stresse, mehr als ein Drittel glaubte zudem an mögliche Schädigungen. Knapp ein Fünftel gab an, bereits Brillen mit Blaulichtfilter zu verwenden, ebenso viele wollten dies beim nächsten Brillenkauf in Erwägung ziehen.
Kosten: Die Kosten eines Blaufilters als Zusatzoption für eine Brille liegen in der Größenordnung von 60 Euro. Hochwertige Blaulichtfilter-Brillen ohne Sehstärken-Korrektur liegen meist bei 70 bis 250 Euro, Edelmarken beliebig darüber. (Quelle)
Haben solche Brillen aber tatsächlich die in Aussicht gestellten kurzfristigen Effekte auf die Augen, visuelle Ermüdung und Schlaf der Träger*innen? Dieser Frage widmet sich ein neuer Cochrane Review, der die Evidenz aus allen relevanten randomisierten kontrollierten Studien (RCTs) auswertet. Wie fast immer bei Cochrane geht es dabei nicht darum, die Plausibilität der behaupteten Wirkmechanismen zu überprüfen. Vielmehr wertet der Review sämtliche verfügbaren Studien mit gewissen Mindeststandards zur Wirksamkeit und möglichen unerwünschten Nebenwirkungen aus und bewertet deren Aussagekraft.
Der Review in Kürze
Die Autor*innen der systematischen Übersichtsarbeit suchten mit den Standardmethoden von Cochrane nach Studien. Dabei beschränkten sie sich auf RCTs, welche die Auswirkungen von Brillengläsern mit Blaulichtfilter im Vergleich zu Gläsern ohne Blaulichtfilter in Bezug auf Augenermüdung, Sehleistung oder die Schlafqualität untersuchten. Sie konnten insgesamt 17 RCTs zur ihrer Fragestellung mit insgesamt 619 Teilnehmenden identifizieren. Allerdings waren diese zumeist sehr klein: Die Zahl der Proband*innen lag zwischen fünf und 156 Personen. Neben gesunden Erwachsenen untersuchten einige Studien auch Personen mit psychischen Erkrankungen oder Schlafstörungen. Die Brillen wurden teilweise für weniger als einen Tag und maximal über einen Zeitraum von fünf Wochen getragen. Über Langzeiteffekte lassen sich also keine Aussagen treffen.
Keine Evidenz für Nutzen von Blaulichtfilter, aber offene Fragen
Das wichtigste Ergebnis in den Worten von Senior-Autorin Laura Downie von der Universität Melbourne: „Wir haben festgestellt, dass die Verwendung von Brillengläsern mit Blaulichtfilterung zur Verringerung der visuellen Ermüdung bei Bildschirmnutzung im Vergleich zu Brillengläsern ohne Blaulichtfilterung offenbar keine kurzfristigen Vorteile bringt. Es ist derzeit auch unklar, ob diese Brillengläser die Sehqualität oder den Schlaf beeinflussen. Zudem konnten wir keine Schlussfolgerungen über mögliche langfristige Auswirkungen auf die Netzhautgesundheit ziehen. Verbraucher in aller Welt sollten sich dieser Ergebnisse bewusst sein, bevor sie sich für den Kauf einer solchen Brille entscheiden.“
Allerdings müsse man bei der Deutung dieser Ergebnisse die methodischen Schwächen und die kurze Dauer der meisten Studien berücksichtigen, ergänzt Downies Mitarbeiter und Koautor Sumeer Singh. So werteten die Autor*innen des Review die Evidenz für die meisten spezifischen Fragestellungen (Outcomes oder Endpunkte) nach dem Bewertungssystem von GRADE als „niedrig“ ein. Die Vertrauenswürdigkeit der Evidenz für Wirkungen auf die Schlafqualität sogar als „sehr niedrig“ und damit nicht belastbar.
„Um die Auswirkungen von Brillengläsern mit Blaulichtfilterung auf die Sehleistung, den Schlaf und die Gesundheit der Augen eindeutiger zu bewerten, bräuchte es qualitativ hochwertige, groß angelegte klinische Forschungsstudien mit längeren Nachbeobachtungzeiten bei verschiedenen Bevölkerungsgruppen“, sagt Singh. Nur so könne man die Wirksamkeit verschiedener Arten von Brillengläsern genauer verstehen und herausfinden, ob spezielle Gruppen (zum Beispiel Ältere, Kinder oder Menschen mit bestimmten Vorerkrankungen) möglichweise mehr davon profitieren, als andere.
Können Brillen mit Blaulichtfilter auch schaden?
Bessere Evidenz braucht es auch für den Aspekt der Sicherheit. Denn auch beim Tragen einer gelblichen Brille sind unerwünschte Wirkungen (über jene auf den Geldbeutel hinaus) nicht auszuschließen. Solche zeigten sich in den ausgewerteten Studien beispielsweise in Form von allgemeinem Unbehagen bei Tragen der Brille, Kopfschmerzen oder Stimmungsschwankungen. Solche Nebenwirkungen waren jedoch selten, schwach und vorübergehend. Zudem traten sie ähnlich oft auch in den Kontrollgruppen auf, könnten also allgemein auf das Tragen einer Brille zurückzuführen sein. Anhand der vorliegenden Evidenz lässt sich dies nicht beantworten.
„In den letzten Jahren gab es eine heftige Debatte darüber, ob Brillengläser mit Blaulichtfilterung in der augenärztlichen Praxis sinnvoll sind“, so Downies Fazit. „Solche Brillengläser werden in vielen Teilen der Welt häufig verordnet und es gibt viele Werbeaussagen zu ihren potenziellen Vorteilen. Die Ergebnisse unserer Arbeit, die sich auf die derzeit beste verfügbare Evidenz stützt, zeigen jedoch, dass die Evidenz für diese Behauptungen unsicher ist und nicht auf einen Nutzen hinweist. Unsere Ergebnisse sprechen nicht für eine Verschreibung von Blaulichtfiltergläsern für die Allgemeinbevölkerung. Diese Ergebnisse sind für viele Interessengruppen von Bedeutung, darunter Augenärzte, Patienten, Forscher und die breite Öffentlichkeit.“
Zu hoffen bleibt, dass die Ergebnisse des Reviews in Zukunft zu weniger vollmundigen Werbeaussagen der Industrie führt. In Großbritannien wurden vor einiger Zeit bereits die Wettbewerbshüter wegen solcher überzogenen Versprechen aktiv.
Übrigens lässt sich die Menge an künstlichem Blaulicht, der wir während des Tages und insbesondere kurz vor dem Schlafengehen ausgesetzt sind, auch auf anderem Wege beeinflussen, etwa über die Displayeinstellungen („Nachtmodus“). Oder man lässt vor dem Zubettgehen einfach mal die Finger von Fernbedienung und Handy – das könnte ganz unabhängig von der Blaulicht-Frage helfen, zur Ruhe zu kommen.
Text: Georg Rüschemeyer, Cochrane Deutschland