Medizinstudenten

EbM im Medizinstudium – Der lange Weg

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„Evidenzbasierte Medizin“ – Als dieser Begriff vor bald 30 Jahren aufkam, war die Idee, Therapieentscheidungen auf kritisch evaluierten Studienergebnissen zu basieren, ein Paradigmenwechsel. Im zweiten Teil unserer Serie „EbM im Studium“ zeichnet unser Gastautor Tobias Weberschock nach, wie sich die EbM in Deutschland seither ihren Platz in der Ausbildung von Ärzt*innen erobert hat.

„So einen Mist brauchst Du nicht.“ Das waren die Worte meines Doktorvaters als er mitbekam, dass wir den ersten Kurs in Evidenzbasierter Medizin (EbM) für Medizinstudierende an der Frankfurter Uni organisierten. Irgendwie hatte ich jedoch das Gefühl, dass er da Unrecht hatte.

Aber alles der Reihe nach. 1998 waren noch andere Zeiten. Der Begriff „Evidenzbasierte Medizin“, geprägt um das Team von David Sackett von der McMaster Universität, war gerade mal 6 Jahre alt und ich hatte just mein Physikum bestanden. Engagiert und voller Motivation nahmen viele meiner Kommiliton*innen am Mannheimer Via Medici Kongress für Medizinstudierende teil. Dort wurde den eifrig teilnehmenden zukünftigen Ärzt*innen jedoch deutlich nahegelegt, dass sie nicht gebraucht würden. Statt zum Beispiel Chirurgie sollten sie lieber etwas anderes machen. Also am besten etwas ganz anderes, wie Medizinjournalismus. Denn damals gab es deutlich mehr Absolvierende als ärztliche Stellen.

Evidenz statt Auswendiglernen

Jetzt könnte man denken, das passt zum Text und der Autor ist tatsächlich Medizinjournalist geworden. Ja, vielleicht wäre es auch so gekommen, wenn ich dann nicht aus lauter Frust über die Berichte meiner Kommilitonen meinen Voucher für die nächste Chirurgiesitzung weggetauscht hätte gegen eine Einführung in die Evidenzbasierte Medizin, damals geleitet von Prof. Franz Porzsolt und dem Medizinstudenten Christian Sellenthin aus Ulm. Dort stellten wir uns zum ersten Mal Fragen, also richtige Fragen, die über das „was ist der Lernstoff und bis wann muss ich das auswendig können?“ hinausgingen.

Die anwesenden Medizinstudierenden schienen von den Inhalten zum Lösen therapeutischer Probleme mit Hilfe wissenschaftlicher Literatur begeistert. Doch damals war es nicht nur ungewöhnlich EbM zu machen. Vielmehr glaubten die Meisten, die ich kennenlernte, dass Medizinstudierende dies noch überhaupt gar nicht könnten, denn es fehle ihnen die Erfahrung eines behandelnden Arztes.

Aus Studierenden wurden Lehrende

Hier waren wir anderer Meinung. Wir hatten ja die eigene Erfahrung und die Umsetzung schon in unseren Famulaturen und Praktika probieren dürfen. Auch die weiteren Kurse in Ulm und dann in Frankfurt gaben uns Recht. Wir organisierten in Frankfurt in kurzen Abständen immer wieder für Studierende zugeschnittene Kurse in EbM mit viel Raum für praktische Übungen und Fragen. Die Nutzung von wissenschaftlichen Erkenntnissen, also der besten verfügbaren externen Evidenz um klinische Patientenfragestellungen ganz praktisch zu lösen stehen seitdem im Vordergrund all unserer Kurse. Schließlich erkannte der Fachbereich Medizin in Frankfurt, dass hier etwa Neues am Entstehen war, was sich zu lohnen schien. Schließlich wurden wir im Rahmen der damaligen 7. Novelle der Approbationsordnung 2002 beauftragt, die deutschlandweit ersten expliziten, scheinpflichtigen Seminare in Evidenzbasierter Medizin für Medizinstudierende durchzuführen. Und das von einer Truppe, die zum Zeitpunkt des Semesterstarts allesamt selbst noch Studierende waren – das war spannend (1).

2003: Das erste EbM-Curriculum

Nach ersten Kontakten auf den Kongressen des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin e.V. (DNEbM) wurde die studentische Bewegung 2002 mit einem eigenen Fachbereich „EbM im Studium“ zur Ausbildung in das Netzwerk aufgenommen mit dem Ziel, die EbM im Medizinstudium deutschlandweit zu etablieren. Dieser ist heute mit der Weiter- und Fortbildung in einem gemeinsamen Fachbereich vereint. Noch im Jahre 2003 entstand das Curriculum „Evidenzbasierte Medizin im Studium“ des DNEbM (2). Zudem veröffentlichte das DNEbM unter Leitung des Fachbereichs die Göttinger Erklärung zur Implementierung von EbM im Medizinstudium (3).

Nachdem wir dann auch mit externer Evidenz belegen konnten, dass Studierende in unseren Kursen tatsächlich in der Lage sind, Wissen und Fertigkeiten in EbM zu erlangen, wurden 2005 die ersten Train-The-Teacher-Kurse ins Leben gerufen (4, 5). Ziel war es durch die Vermittlung von weiterführenden Kenntnissen über die EbM und ihre Lehre andere Universitäten in der Implementierung zu unterstützen Diese Kurse laufen seitdem ununterbrochen einmal jährlich mit Unterstützung des DNEBM, der AWMF* und der GMA**. Einer Analyse des DNEbM zufolge gab es bereits 2007 in der Hälfte aller deutschen Fakultäten im Vorlesungsverzeichnis Hinweise darauf, dass EbM an Studierende vermittelt wurde (6). Dies waren jedoch zum guten Teil keine strukturierten und fokussierten EbM-Kurse sondern unter anderem auch Journal Clubs.

EbM im Medizinstudium? Längst keine Frage mehr!

Eine Frage, die viele lange umtrieb war die nach einem belegbaren Nutzen der EbM über die Offensichtlichkeit hinaus. Der Siegeszug der medizinischen Leitlinienentwicklung mit aktuell nahezu 900 Leitlinien und Handlungsempfehlungen im Register der AWMF spricht klar für den Erfolg des Gedankens und der Methoden und Inhalte. Offen blieb zunächst die Frage nach dem individuellen Nutzen der EbM für den Arzt und die Ärztin als Berufsanfänger. 2013 zeigte eine Studie, dass der klinische Nutzen von EbM zum Berufsstart nach einer berufsbegleitenden EbM-Weiterbildung von 88% der am Frankfurter Uniklinikum anfangenden Ärztinnen und Ärzte im ersten halben Jahr bejaht wurde, nach weiteren 6 Monaten stieg der Anteil sogar auf 96% (7).

Wenig überraschend zeigte eine Befragung des DNEbM, dass der Anteil der deutschen Universitäten, die eigenberichtet EbM im Medizinstudium anboten, im Jahre 2013 bereits bei 92% lag (8). Dies waren jedoch immer noch häufig nur freiwillige und extracurriculare Angebote. Im Studium fest verankert für alle war bis dahin nichts.

Das Ziel: Ärzt*innen mit Wissenschaftskompetenz

Dieser letzte Schritt begann Fahrt aufzunehmen, als der Wissenschaftsrat 2014 zunächst forderte, die wissenschaftlichen Kompetenzen der Medizinstudierenden in Deutschland zu stärken. Nur ein Jahr später kam es dann zur Veröffentlichung des Nationalen Kompetenzbasierten Lernzielkatalogs Medizin (NKLM) in seiner ersten Fassung. Hier wurden für das gesamte Medizinstudium Lernziele vorgeschlagen, die in ihrer Gesamtheit den neuen Ausbildungskatalog stellen sollten. Leider blieben beide Initiativen erst einmal ohne verpflichtenden Charakter. 2017 schließlich etablierte die damalige Bundesregierung den Masterplan Medizinstudium mit einer klaren Aussage zu einer verstärkten wissenschaftlichen Ausbildung der Studierenden sowohl in Forschung, als auch in der Anwendung medizinischer Erkenntnisse in der täglichen Patientenversorgung.

Gleichzeitig wurde der NKLM in einer gemeinsamen Anstrengung zu einer Version 2.0. aktualisiert und auf eine breitere Basis gestellt. Daran beteiligt waren unter anderem die Bundesministerien für Bildung und Forschung und das Bundesministerium für Gesundheit, die Kultusministerkonferenzen, der medizinische Fakultätentag, die AWMF, die GMA. Mit Veröffentlichung des NKLM 2.0. fanden die dort erarbeiteten EbM-Lernziele weitestgehend Eingang in den Gegenstandskatalog des Instituts für medizinische und pharmazeutische Prüfungsfragen (IMPP) und wurden damit zum Inhalt des zweiten Staatsexamens.

Das nächste Ziel: Bundesweit ähnliche Standards

Aktuell warten in Deutschland die Fakultäten auf die Verabschiedung der 8. Novelle der ärztlichen Approbationsordnung. Nach dem Referentenentwurf soll der NKLM darin das Kerncurriculum für die Ausbildung von Medizinstudierenden bilden.

Im neuen NKLM sind sowohl die Lernziele zur EbM gemäß nationalen und internationalen Empfehlungen abgebildet. Zudem sind diese auch als sogenannte anvertraubare Tätigkeiten übergeordnet zu vermitteln und die EbM ist als Grundlage aller anvertraubaren Tätigkeiten beschrieben (9, 10). Anvertraubare Tätigkeiten sind ärztliche, überprüfbare Kerntätigkeiten, die im Praxisalltag zum Berufsbeginn benötigt werden.

Ziel der Vermittlung von EbM für Medizinstudierende ist und war es, die Versorgung der uns anvertrauten Patientinnen und Patienten auf wissenschaftlicher Grundlage praxisnah und im Alltag zu verbessern. Dafür lohnen sich auch lange Wege. Und mein Doktorvater ist mittlerweile übrigens selbst Erstautor einer großen medizinischen S3-Leitlinie. Mit der anstehenden neuen Approbationsordnung geht es zukünftig hoffentlich nicht mehr um die Frage, ob EbM Teil des Studiums sein soll. Sondern darum, wie wir an den verschiedenen medizinischen Fakultäten vergleichbare Lerninhalte zur EbM implementieren können, um unabhängig vom Standort eine deutschlandweit vergleichbare Ausbildung zu ermöglichen.

*Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften e.V.
**Gesellschaft für medizinische Ausbildung e.V.

Bild Tobias Weberschock

Autor: Tobias Weberschock wurde doch nicht Journalist, sondern wie geplant Mediziner. Er ist heute Professor und dermatologischer Oberarzt am Universitätsklinikum Frankfurt und gleichzeitig Leiter der Arbeitsgruppe Evidenzbasierte Medizin Frankfurt (AG EbM) am Institut für Allgemeinmedizin der Goethe-Universität Frankfurt.

Quellen

  1. Bergold M, Ginn TC, Schulze J, Weberschock T. 1. curriculares Seminar „Evidenzbasierte Medizin“ in der medizinischen Ausbildung in Frankfurt. ZArztlFortbildQualitatssich. 2005;99(7):431-5.
  2. Beyer M, Bergold M, Donner-Banzhoff N, Falck-Ytter Y, Gensichen J, Gerlach FM, et al. Curriculum Evidenzbasierte Medizin im Studium. : German Network for Evidence Based Medicine 2003 [Available from: http://www.ebm-netzwerk.de
  3. Evidenzbasierte Medizin: „Göttinger Erklärung“. Dtsch Arztebl International. 2003;100(4):154-.
  4. Klemstein S, Strametz R, Bergold M, Weberschock TB. Train the Teacher – Kurs in Frankfurt am Main. 8Jahrestagung des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin. 2006:07ebm087.
  5. Weberschock TB, Ginn TC, Reinhold J, Strametz R, Krug D, Bergold M, et al. Change in knowledge and skills of Year 3 undergraduates in evidence-based medicine seminars. Medical Education. 2005;39(7):665-71.
  6. Cox M, Ollenschläger G, Niederstadt C, Drumm I, Lühmann D, J W, editors. Universitäre Ausbildung in Evidenz basierter Medizin – Publizierter Status und Überblick. EbM in Qualitätsmanagement und operativer Medizin 8 Jahrestagung des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin e V; 2007; Berlin: Köln: German Medical Science.
  7. Bergold M, Strametz R, Weinbrenner S, Khan KS, Zamora J, Moll P, et al. [Evidence-based Medicine online for young doctors – a randomised controlled trial]. Z Evid Fortbild Qual Gesundhwes. 2013;107(1):36-43.
  8. Weberschock T, Dorr J, Valipour A, Strametz R, Meyer G, Luhmann D, et al. [Evidence-based medicine teaching activities in the German-speaking area: a survey]. Z Evid Fortbild Qual Gesundhwes. 2013;107(1):5-12.
  9. Steckelberg A SM, Lühmann D, Weberschock T, Strametz R, Weingart O, Albrecht M, Braun C, Balzer K. Kerncurriculum Basismodul Evidenzbasierte Entscheidungsfindung.: Fachbereich EbM in Aus- Weiter- und Fortbildung, Deutsches Netzwerk Evidenzbasierte Medizin 2017 [Available from: https://www.ebm-netzwerk.de/was-wir-tun/publikationen/kerncurriculum.pdf.
  10. Albarqouni L, Hoffmann T, Straus S, Olsen NR, Young T, Ilic D, et al. Core Competencies in Evidence-Based Practice for Health Professionals: Consensus Statement Based on a Systematic Review and Delphi Survey. JAMA Netw Open. 2018;1(2):e180281.

Dies ist der zweite Artikel unserer Serie zu „EbM im Studium“. Lesen Sie auch:

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