Unsere Gesundheitsversorgung soll evidenzbasiert sein – das ist fast schon eine Binsenweisheit. Doch in der Praxis gibt es noch große Lücken, die oft schon in der Ausbildung von Gesundheitsprofis beginnen. In diesem ersten Gastbeitrag einer kurzen Serie zum Thema „EbM im Studium“ stellen Birte Berger-Höger und Maria Raili Noftz das „Kerncurriculum Evidenzbasierte Entscheidungsfindung“ des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin e. V. vor.
Im Alltag einer Klinik oder Praxis müssen Ärzt*innen, Pflegende und andere Mitarbeitende von Gesundheitsfachberufen im Sinne ihrer Patient*innen Tag für Tag Entscheidungen treffen: Welcher diagnostische Test ist sinnvoll, welche Behandlung effektiv? Welche präventiven Maßnahmen sind zu empfehlen? Welche Eigenheiten der einzelnen Patient*innen gilt es dabei zu beachten? Zur angemessenen Berücksichtigung der Bedürfnisse und Wünsche der einzelnen Patient*innen sollte die Entscheidung gemeinsam mit ihnen getroffen werden. Um für individuelle Patient*innen die richtigen Antworten zu finden, wenden die klinisch tätigen Berufsgruppen traditionell ihre erlernte und durch Erfahrung angeeignete Expertise an – man bezeichnet dieses Wissen auch als interne Evidenz.
Die evidenzbasierte Medizin (EbM) unterstützt und überprüft diese interne Evidenz und somit den Prozess der Problemlösung für die Patient*innen durch Hinzunahme von systematisch erworbenen und kritisch bewerteten Fremdwissen aus der wissenschaftlichen Fachliteratur, der externen Evidenz. Die Antworten aus diesen beiden Evidenzformen (intern und extern) bilden dann zusammen mit der konkreten Situation des/der Patientin und seiner/ihrer individuellen Vorstellungen die Grundlage für eine gemeinsame, evidenzbasierte Entscheidungsfindung.
Das Konzept der evidenzbasierten Medizin (EbM) wie wir es heute kennen, lehren und anwenden wurde Anfang der 1990er Jahre durch Gordon Guyatt, David Sackett und weitere Kolleg*innen der McMasters Universität in Kanada geprägt. Die wohl bekannteste Definition beschreibt das EbM -Konzept wie folgt:
„EbM ist der gewissenhafte, ausdrückliche und vernünftige Gebrauch der gegenwärtig besten externen, wissenschaftlichen Evidenz für Entscheidungen in der medizinischen Versorgung individueller Patienten. Die Praxis der EbM bedeutet die Integration individueller klinischer Expertise mit der bestverfügbaren externen Evidenz aus systematischer Forschung und schließt die Patientenpräferenz ein.“ [1]
Dies war eine Zäsur in der medizinischen Versorgung. „Eminenzbasiertes“, tradiertes Wissen galt fortan nicht mehr als Goldstandard in der medizinischen Entscheidungsfindung. Dies erforderte ein Umdenken aller Beteiligten und setzt aber auch entsprechende Kompetenzen bei den klinisch tätigen Berufsgruppen voraus.
EbM-Lehrangebote vermitteln mit teilweise unterschiedlichen Schwerpunkten die Kompetenzen zum Finden, Suchen, Bewerten und Anwenden der externen Evidenz nach dem Prinzip der klassischen fünf Handlungsschritte nach Sackett [2].
- Ask: Den Informationsbedarf für eine klinische Fragestellung in einer beantwortbaren Frage formulieren
- Aquire /Access: Mit sinnvollen Schlüsselwörtern aus der Fragestellung in eine effiziente Literatursuche gehen und anerkannte Literaturdatenbanken und andere valide Quellen durchsuchen
- Appraise: Eine kritische Bewertung der gefundenen Evidenz durchführen in Bezug auf die Validität, Reliabilität und Nützlichkeit der Ergebnisse
- Apply: Das Zusammenführen der bewerteten externen Evidenz mit der eigenen internen Evidenz und den Präferenzen der Patient*in
- Assess: Eigene Reflexion und Beurteilung der ersten vier Schritte
Bald 30 Jahre nach Veröffentlichung der Definition von Sackett hat sich das Konzept der evidenzbasierten Medizin weltweit und so auch im deutschsprachigen Raum etabliert. Von den Anfängen im klinisch-ärztlichen Bereich verbreitete es sich in viele andere relevante Disziplinen (wie z.B. Public Health, Health Care, Pflege, Psychologie, Hebammenwissenschaften oder Physiotherapie) wie auch in nicht-klinische Bereiche. Man spricht daher auch oft von EbX, wobei das „X“ hier für die genauere Bezeichnung der jeweiligen Fachdisziplin steht (z.B. evidenzbasierte Pflege oder evidenzbasierte Public Health). Die Weiterentwicklung des EbM-Gedanken führte zur Gründung wichtiger nationaler und internationaler Institutionen wie der Cochrane Collaboration, dem Gemeinsamen Bundesausschuss, dem Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) und der Entwicklung von evidenzbasierten nationalen Versorgungsleitlinien. Das deutsche Netzwerk für evidenzbasierte Medizin e.V. wurde 1998 gegründet.
EbX-Kompetenzen – alles andere als Standard?
EbX-Kompetenzen sind angesichts sich ständig weiterentwickelnder diagnostischer, therapeutischer und pflegerischer Maßnahmen für klinisch tätige Gesundheitsfachpersonen hoch relevant und wichtig für eine evidenzbasierte Versorgungspraxis. Eine anspruchsvolle Aufgabe, die eine gute Ausbildung des Nachwuchses erfordert.
Um die externe Evidenz korrekt und sinnvoll im Sinne der EbX anwenden zu können, benötigt es in der Aus-, Weiter- und Fortbildung das Erlernen von grundlegenden wissenschaftlichen Kompetenzen, angepasst an die jeweilige Ausbildungssituation. Eine Übersicht zu EbX-Kernkompetenzen für Gesundheitsexpert*innen wurde durch ein Expertenpanel konsentiert [3]. Dazu gehören zusammengefasst grundlegende statistische und epidemiologische Kenntnisse (engl. statistical literacy), sowie die Fähigkeiten zur Literatursuche und kritischen Analyse (scientific reasoning and argumentation) und kommunikativen Kompetenz zur Vermittlung der Evidenz gegenüber Patient*innen.
Wissenschaftliche Kompetenzen werden im akademischen Bereich z.B. im Medizinstudium oder pflege- und hebammenwissenschaftlichen Studiengängen als Teil des Curriculums vermittelt. Erhebungen machen jedoch deutlich, dass das Verständnis und die Anwendung von wissenschaftlichen Kompetenzen in der klinischen Entscheidungsfindung im späteren Beruf oft schwerfallen. So weisen Studienergebnisse ein reduziertes Level an statistical literacy bei ärztlichem Personal auf [4-6]. Im pflegerischen Kontext zeigten Umfragen, dass Pflegende in der praktischen Arbeit häufiger auf das traditionell Erlernte oder die Erfahrung von Kolleg*innen zurückgreifen und selten wissenschaftliche Fachartikel oder Leitlinien konsultieren, um die aktuelle Evidenzlage zu betrachten und reflektieren [7].
EbX-Lehrangebote sind mittlerweile in der Ausbildung von Gesundheitsexpert*innen angekommen, dennoch ist das Thema in vielen akademischen und nicht-akademischen Lehrformaten verschiedener Gesundheitsberufe weiterhin unterrepräsentiert. Ein systematischer und vollständiger Überblick über die unterschiedlichen Lehrangeboten zu EbX der unterschiedlichen Aus,-Weiter,-Fortbildungsstätten fehlt bis dato [8].
Das Erlernen der Ebx-Methodik kann das Interesse, das grundlegende Verständnis und die Sinnhaftigkeit von wissenschaftlichen Kompetenzen in klinischen Entscheidungssituationen für Gesundheitsexpert*innen unterstützen bzw. verdeutlichen. Sie kann Expert*innen ein systematisches Herangehen im Suchen, Finden und Bewerten von externer Evidenz vermitteln. Um aber eine dauerhafte und vertiefende Methodenkompetenz erreichen zu können, braucht es über ein Kursformat hinaus eine kontinuierliche Anwendung und Weiterbildung, sowie eine grundlegende Haltung und Reflexion zu EbX im klinischen Alltag.
Zusätzlich ist eine EbX-Kompetenz auch eine entscheidende Voraussetzung, um eine neue Rollenverteilung im Gesundheitswesen zu erreichen, bei der Akteur*innen aus den Gesundheitsfach- und Therapieberufen erweiterte Kompetenzen erhalten. Ein solcher Wandel wird zur langfristigen Sicherstellung der Versorgung diskutiert. Um die entsprechenden Berufsgruppen mit entsprechenden EbX-Kompetenzen auszustatten wird seit längerem eine (Teil-)Akademisierung der Gesundheitsfach- und Therapieberufe gefordert [9] und zunehmend auch umgesetzt.
Kerncurriculum „Evidenzbasierte Entscheidungsfindung“
Das Netzwerk Evidenzbasierte Medizin e.V. hat 2017 mit der Revision des Kerncurriculums „Evidenzbasierte Entscheidungsfindung“ die Anforderungen an Aus-, Fort- und Weiterbildungsangebote definiert. Das Curriculum orientiert sich dabei am Leitbild der informierten gemeinsamen Entscheidungsfindung, auf die Patient*innen einen ethischen und gesetzlichen Anspruch haben [10, 11]. Das Curriculum wurde systematisch entwickelt. Die Bildungsziele und Inhalte des Curriculums basieren auf den Ergebnissen relevanter Literatur zur Vermittlung von EbX-Kompetenzen und auf Expert*innenbefragungen in den Bereichen Pflege, Logopädie, Ergotherapie, Physiotherapie, Zahnmedizin und Medizin. Im Anschluss wurden diese in zwei Workshops und Web-Konferenzen diskutiert und verabschiedet [10, 11]. Das Curriculum richtet sich an alle Mediziner*innen, Angehörige von Gesundheitsfachberufen, Patient*innen und Bürger*innen. Mittlerweile wurde es auch für verschiedene Zielgruppen didaktisch aufbereitet und erprobt [12].
Was wird im Curriculum gelehrt?
Die EbX folgt einem regelhaften Prozess (Siehe Sacketts Schritte der EbM oben) an dem sich auch die Inhalte der sechs Module des Curriculums orientieren. Zunächst geht es darum, aus einem klinischen Problem eine klar definierte Fragestellung zu formulieren, die es ermöglicht, medizinische Datenbanken nach relevanter Forschungsliteratur zu durchsuchen. In weiteren, meist interaktiven Modulen dreht sich dann alles darum, die identifizierte Literatur kritisch zu bewerten und ihre Ergebnisse zu interpretieren. Die Vorgehensweise variiert hier je nach Forschungsdesign (z. B. Therapie- und Diagnostikstudien, systematische Übersichtarbeiten oder Leitlinien).
Da es letztlich um individuelle Entscheidungen geht, prüft man im Anschluss, inwieweit die Ergebnisse auf den konkreten Fall übertragbar sind. Hierzu müssen die Praktiker*innen das gemeinsame Gespräch mit den Patient*innen suchen, um sie einerseits über die Handlungsalternativen und deren Vor- und Nachteile zu informieren und andererseits über ihre individuellen Bedürfnisse und Wünsche zu sprechen. Hierzu ist im revidierten Curriculum des DNEbM e.V. ebenfalls ein eigenständiges Modul vorgesehen.
Ich will auch die Methodik der EbX erlernen – an wen kann ich mich wenden?
Das Netzwerk Evidenzbasierte Medizin e.V. zertifiziert auf Wunsch von Bildungsträgern Aus,-Fort- und Weiterbildungsangebote, die die Anforderungen des Kerncurriculums erfüllen. Die Teilnehmenden dieser Kursangebote erhalten ein entsprechendes Zertifikat. Neue Kursangebote werden regelmäßig auf der Webseite des DNEbM veröffentlicht (Verlinkung). Diese Kurse vermitteln ein Grundverständnis von EbX Methoden und deren Anwendung.
Das Konzept der Evidenzbasierung in den Gesundheitsberufen ist seit seinen Anfängen vor bald 30 Jahren weit gekommen. Doch bei der praktischen Umsetzung im klinischen Alltag zeigen sich noch große Lücken. Um diese auf Dauer zu füllen, ist eine solide Grundlage in Theorie und Praxis der EbX schon in der Ausbildung, aber auch später im Beruf entscheidend. Dazu will das Netzwerk Evidenzbasierte Medizin mit seinem Kerncurriculum „Evidenzbasierte Entscheidungsfindung“ einen Beitrag leisten.
Text: Birte Berger-Höger und Maria Raili Noftz sind die Sprecherinnen des Fachbereichs „EbM in Aus-, Weiter- und Fortbildung“ des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin e. V.
Quellen
- Sackett DL, Rosenberg WM, Gray JA, Haynes RB, Richardson WS: Evidence based medicine: what it is and what it isn’t. BMJ 1996, 312(7023):71-72.
- Kumaravel B, Hearn JH, Jahangiri L, Pollard R, Stocker CJ, Nunan D: A systematic review and taxonomy of tools for evaluating evidence-based medicine teaching in medical education. Systematic reviews 2020, 9(1):91.
- Albarqouni L, Hoffmann T, Straus S, et al.: Core competencies in evidence-based practice for health professionals: Consensus statement based on a systematic review and delphi survey. JAMA Network Open 2018, 1(2):e180281.
- Windish DM, Huot SJ, Green ML: Medicine residents‘ understanding of the biostatistics and results in the medical literature. JAMA 2007, 298(9):1010-1022.
- Gaissmaier W, Gigerenzer G: Statistical illiteracy undermines informed shared decision making. Z Evid Fortbild Qual Gesundhwes 2008, 102(7):411-413.
- Anderson BL, Gigerenzer G, Parker S, Schulkin J: Statistical literacy in obstetricians and gynecologists. J Healthc Qual 2014, 36(1):5-17.
- Köpke S, Koch F, Behncke A, Balzer K: German hospital nurses‘ attitudes concerning evidence-based nursing practice. Pflege 2013, 26(3):163-175.
- Weberschock T, Dörr J, Valipour A, Strametz R, Meyer G, Dagmar L, Steurer J, Horvath K, Donner-Banzhoff N, Forster J et al: Evidenzbasierte Medizin in Aus-, Weiter- und Fortbildung im deutschsprachigen Raum: Ein Survey. Zeitschrift für Evidenz Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen 2013, 107.
- Meyer G: An evidence-based healthcare system and the role of the healthcare professions. Z Evid Fortbild Qual Gesundhwes 2015, 109(4-5):378-383.
- Kerncurriculum Basismodul Evidenzbasierte Entscheidungsfindung [Basic curriculum evidence-based decision-making. [https://www.ebm-netzwerk.de/de/medien/pdf/ebm-kerncurriculum.pdf/view]
- Steckelberg A, Siebolds M, Lühmann D, Weberschock T, Strametz R, Weingart O, Albrecht M, Braun C, Balzer K: Methodenreport Basismodul Evidenzbasierte Entscheidungsfindung. In. Edited by Fachbereich EbM in Aus- Weiter- und Fortbildung DNEM: DNEBM; 2017.
- Hinneburg J, Hecht L, Berger-Hoger B, Buhse S, Luhnen J, Steckelberg A: Development and piloting of a blended learning training programme for physicians and medical students to enhance their competences in evidence-based decision-making. Z Evid Fortbild Qual Gesundhwes 2020, 150-152:104-111.
Dies ist der erste Artikel unserer Serie zu „EbM im Studium“. Lesen Sie auch:
- Evidenzbasierte Medizin in Lehre und Ausbildung – Wo stehen wir?
- EbM aus Sicht von Studierenden: „Im Beruf müssen wir wissen, was wirklich wirkt“