In unserer Miniserie „Evidenzbasierte Medizin im Studium“ ging es bisher um den langen und manchmal steinigen Weg der Evidenzbasierung in die Curricula verschiedener Heilberufe. Aber wie nehmen Studierende selbst den Stellenwert der Evidenz in ihrem Studium und für das spätere Berufsleben wahr? Per Zoom sprachen wir darüber mit der Physiotherapeutin Lisa Retkowsky, dem Pharmazeuten Max Siebert und dem Mediziner Florian Hagenbourger. Mit dem Interview endet unsere Serie, das Thema wird uns aber sicher weiter begleiten.
Lisa, Max und Florian, wir wollen heute über eure Erfahrungen aus dem Studium mit den Konzepten der evidenzbasierten Medizin beziehungsweise Gesundheitsversorgung sprechen. Wann und wie seid ihr zuerst damit in Kontakt gekommen und was interessiert euch daran besonders?
Florian: Bei uns Freiburger Medizinstudierenden war das gleich in einer Einführungsveranstaltung. Da wurden wir sehr explizit darauf hingewiesen, dass wir wissenschaftlich denkende Ärzte und Ärztinnen werden sollen. Mehr mit Leben gefüllt wurde das dann im zweiten Semester in einem Seminar zur Wissenschaftlichkeit. Aber auch in den Vorlesungen kam das Thema in Laufe des Studiums immer mehr vor. Für mich war dieses wissenschaftliche Arbeiten von Anfang an ein Anspruch, mit dem ich ans Medizinstudium herangegangen bin.
Lisa: Bei mir ging das auch recht fix. Gleich im ersten Semester ging es in einer großen Vorlesung um die Grundlagen des wissenschaftlichen Arbeitens. Ab dem dritten oder vierten Semester gab es dann erste Seminare und Hausarbeiten zum Thema. Für mich ist es ein hohes Gut, unseren Patientinnen und Patienten die optimale Versorgung zukommen zu lassen. Deswegen interessierte mich EbM von Anfang an sehr. Denn in der Physiotherapie schwirren nach wie vor viele Therapien in der Luft herum, obwohl sie durch Evidenz längst widerlegt sind. Allerdings ist es in der Physiotherapie oft schwierig, Therapien optimal zu untersuchen, zum Beispiel weil man keine guten Placebo-Behandlungen hat oder weil man die Beteiligten in einer Studie nur schwer verblinden kann. Deswegen ist die Evidenz oft nicht besonders deutlich.
Gibt es in der PT denn auch richtig gut belegte Ansätze?
Lisa: Ja, durchaus. Ein Beispiel ist Krafttraining, also gezieltes Muskeltraining. Da kann man beispielsweise nach einem Schlaganfall die Lebensqualität wirklich deutlich positiv beeinflussen.
Und wie war es bei dir im Pharmaziestudium, Max?
Max: Zum ersten Mal habe ich erst im allerletzten Studienjahr von EbM gehört, im Fach klinische Pharmazie. Davor geht es im Studium hauptsächlich um Pharmakologie und chemische Strukturen von Wirkstoffen. Ich finde es als Pharmazeut aber extrem wichtig zu wissen, welche Medikamente tatsächlich wirken und welche wahrscheinlich nicht. Ich liebe den EbM-Ansatz, weil man die Ergebnisse von Interventionen wirklich messen kann. Und ich finde gut, dass das kritische Denken gefördert wird. Corona hat gezeigt, dass auch Apotheker und Apothekerinnen im Bereich EbM gute Grundlagen brauchen – denn gerade sie haben viel Kontakt mit den Leuten und könnten mehr zur Aufklärung beitragen.
Man könnte doch auch sagen: Wozu im Studium noch EbM lernen, man muss da doch schon mehr als genug Stoff büffeln.
Lisa: Ich finde den evidenzbasierten Ansatz so wichtig, weil wir ja ein ganzes Berufsleben vor uns haben. 40 oder 45 Jahre zu arbeiten ohne Weiterbildung wäre für mich undenkbar und fahrlässig. Ich glaube, dass es ganz, ganz wichtig ist, dass wir das evidenzbasierte Denken und die Frage, was denn wirklich als wirksam anerkannt ist, schon im Studium verinnerlichen. Es sollte eine Selbstverständlichkeit werden. Studien finden, lesen und verstehen zu können, muss geübt werden. Meiner Meinung nach sollte das in der Studienphase stattfinden. Später im Berufsleben fehlt dafür die Zeit. In der Praxis arbeiten wir später oft auf Basis einer ärztlichen Überweisung, auf der nur die Diagnose und als Therapie beispielsweise ganz allgemein „Krankengymnastik“ steht. Wir haben dadurch große Freiheiten und müssen umso mehr wissen, was wirklich wirkt.
Max: In der Pharmazie ist es wichtig zu wissen: Was ist der Vorteil des einen Medikaments gegenüber einem anderen. Und dann muss man das auch der Patientin oder dem Patienten vermitteln können. Zum Beispiel die diätische Pharmakologie: Da geht es um die Frage welchen echten Nutzen Zusatzstoffe überhaupt haben. Ein gutes EbM-Wissen ist als Apotheker eine wichtige Voraussetzung um Werbeaussagen, die man zum Beispiel von einem Pharmavertreter hört, kritisch hinterfragen zu können: Welche Endpunkte wurden gemessen? Wie relevant ist der zusätzliche Benefit? Das ist gerade wichtig für frei verkäufliche Präparate wie Nahrungsergänzungsmittel, die nicht von Ärztinnen oder Ärzten verschrieben werden. Andererseits hat man bei den verschreibungspflichtigen Medikamenten manchmal das Problem, dass man die Einschätzung des Arztes oder der Ärztin nicht teilt. Dann muss man Rücksprache halten und sich im Zweifel herumstreiten – hoffentlich evidenzbasiert.
Bist du als Apotheker da nicht in einem Interessenkonflikt? Als Geschäftsmann willst du ja auch etwas verkaufen…
Max: Klar, stimmt schon. Aber so zu denken wäre kurzsichtig. Auf Dauer kommen die Leute eher wieder zurück zu dir, wenn Sie das Gefühl haben, dass sie kompetent beraten werden und dass das auch mal bedeuten kann, dass man ihnen von einem Kauf abrät.
Muss man Medizinern und Medizinerinnen den Wert der EbM noch groß erklären, Florian?
Florian: Wir lernen, dass die Halbwertszeit des medizinischen Wissens bei fünf bis sieben Jahren liegt – was man also am Anfang des Studiums lernt, kann beim Abschluss schon wieder überholt sein! Der ärztliche, beziehungsweise heilkundliche Ethos verpflichtet uns alle, Schaden zu vermeiden und wirklich die beste Behandlung anzuwenden, die es gibt. Im Idealfall kann ich als Arzt später selbst durch Fallberichte oder Mitarbeit an Studien dazu beitragen, Wissen zu generieren.
Fandet ihr den Stellenwert der EbM in euren Studiengängen ausreichend?
Max: Ich habe das als ziemlich schlecht erlebt! Der Bundesverband der Pharmaziestudierenden in Deutschland macht regelmäßig Umfragen dazu. Da kam heraus, dass sich nur zehn Prozent des Studiums mit klinischer Pharmazie beschäftigen, also dem Fach in dem am ehesten ein bisschen Evidenzbewertung vorkommt. Bei uns gab es nur einen Prof, der das für alle 120 Studenten anbot. Also wenn ich von Lisa höre, dass sie schon früh im Studium Hausarbeiten mit Literaturrecherche geschrieben hat – das gab es bei uns gar nicht. Pharmazeuten lernen das viel zu wenig. Und das ging nicht nur mir so, wie die Umfragen zeigen. Es gibt aber auch schon sehr positive Beispiel von einigen Studienorten – das hängt dann oft von einzelnen Professorinnen ab, die sich für das Thema engagieren. Ich hoffe, dass das in Zukunft Schule macht.
Lisa, bei dir in der Physiotherapie sieht es offenbar besser aus?
Lisa: Ja schon, dies ermöglicht vor allem das Modell des dualen Studiengangs den ich absolviere. Der praxisorientierte Unterricht an einer Berufsfachschule wird hier mit der wissenschaftlichen Lehre an der Hochschule ergänzt. Neben der Möglichkeit Physiotherapie dual zu studieren, kann man es primärqualifizierend an einer Universität studieren oder eine Berufsausbildung absolvieren. Physiotherapiestudierende, die einen primärqualifizierenden Studiengang absolvieren, haben einen vergleichbaren hohen wissenschaftlichen Anteil. Bei der reinen Berufsausbildung ist die EbM aber noch arg unterrepräsentiert. Zudem muss man anmerken, dass alle drei Modelle auf ein Curriculum, also ein Ausbildungsgesetz und eine Prüfungsverordnung aus dem Jahr 1994 basieren. Meiner Meinung nach ist das zu alt und im Sinne der EbM alarmierend.
Florian, wie ist das in der Medizin, aus der das Prinzip und der Name der EbM ja ursprünglich stammen – hat sie dort im Studium genug Stellenwert?
Florian: Es ist schwierig, meine Erfahrungen zu verallgemeinern. In Freiburg ist EbM eben schon lange ein Steckenpferd und meine Erfahrungen diesbezüglich sind zumeist sehr gut. Hier schaut man auch in Praktika und Famulaturen viel auf die Evidenz. Aber selbst hier unterscheidet sich das von Fach zu Fach. Ich habe auch Profs gehört, die trotz gegenteiliger Evidenz für eine Therapie geworben haben, mit der Begründung, dass sie damit mal eine gute Erfahrung gemacht hätten – „persönliche Evidenz“ hieß das dann. Das war echt schmerzhaft…
Max, Lisa und Florian: Vielen Dank für das Gespräch!
Florian Hagenbourger studiert im 9. Semester an der Universität Freiburg Medizin. Er arbeitet gerade an seiner Promotion in der pädiatrischen Hämato-Onkologie.
Max Siebert hat in Regensburg Pharmazie studiert und promoviert zur Zeit an der Universität Rennes zum Thema Transparenz & Reproduzierbarkeit in klinischer Forschung.
Lisa Retkowsky studiert Physiotherapie dual im 7. Semester an der Hochschule 21 in Buxtehude. Sie schreibt derzeit an ihrer Bachelorarbeit und plant, danach noch einen Master zu machen.
Fragen: Georg Rüschemeyer
Dies ist der letzte Artikel unserer Serie zu „EbM im Studium“.
Hier alle verfügbaren Artikel der Serie:
- Evidenzbasierte Medizin in Lehre und Ausbildung – Wo stehen wir?
- EbM im Medizinstudium – Der lange Weg