Freiheitsentziehende Maßnahmen im Pflegeheim: Bett mit Gurten

Freiheitsentziehende Maßnahmen im Pflegeheim: Wie lassen sie sich reduzieren?

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Bettgitter, feste Tische oder Gurte am Bett oder Rollstuhl sollen Heimbewohner*innen vor Unfällen schützen. Ob das wirklich funktioniert ist fraglich. Vor allem aber ist die Einschränkung des Grundrechts auf Bewegungsfreiheit ethisch hoch problematisch. Doch wie lassen sich solche freiheitsentziehenden Maßnahmen im Altenpflegeheim am besten minimieren? Gastautor Ralph Möhler stellt die Ergebnisse eines Cochrane Reviews zum Thema, den er und sein Team kürzlich veröffentlicht haben, vor.

Im Leitungsteam eines Altenpflegeheims trägt man gemeinsam die Verantwortung für die bestmögliche Versorgung der Bewohner*innen. Im Mittelpunkt steht dabei, gleichzeitig für ihre Sicherheit und ihr Wohlbefinden zu sorgen. Doch was, wenn diese beiden Ziele manchmal scheinbar schwer vereinbar sind? Damit sind wir bei einem wichtigen Thema, der Verwendung sogenannter freiheitsentziehender Maßnahmen (FEM). Zu solchen Zwangsmaßnahmen gehören Bettgitter, feste Tische oder Gurte am Bett oder Rollstuhl, die Unfälle und Stürze bei gefährdeten Bewohner*innen verhindern sollen. Wie häufig solche Fixiermittel eingesetzt werden, ist von Heim zu Heim unterschiedlich. Untersuchungen zeigen jedoch, dass im Durchschnitt etwa ein Viertel der Bewohner*innen betroffen sind.

Solche Maßnahmen sollen die Sicherheit der Betroffenen erhöhen, allerdings erreichen sie dieses Ziel oft nicht. Außerdem muss man auch die negativen Auswirkungen der Fixierung auf die Gesundheit und Lebensqualität in den Blick nehmen. Bewegungsfreiheit stellt ein Grundrecht dar und darf ohne einen besonders schwerwiegenden Grund nicht eingeschränkt werden. Eine vorbeugende Fixierung ohne konkrete Gefahr für die Gesundheit kann den Einsatz von FEM also nicht rechtfertigen. Eine Bewegungseinschränkung kann unbeabsichtigt die körperliche Funktion, die Mobilität oder das emotionale Wohlbefinden beeinträchtigen. Dabei kann sie das Risiko von Unfällen und Pflegebedürftigkeit unter Umständen sogar erhöhen, etwa durch Stürze beim Übersteigen eines Bettgitters. Fixierungen verstärken häufig aggressives Verhalten oder lösen es überhaupt erst aus. Gute Gründe also, um in dieser Frage über einen durchdachten und evidenzbasierten Ansatz nachzudenken.

Freiheitsentziehende Maßnahmen reduzieren – aber wie?

Mehrere Länder, darunter Deutschland, Großbritannien und die USA, haben die Bedeutung des Themas erkannt. Sie empfehlen in ihren Leitlinien, körperliche Zwangsmaßnahmen in Pflegeheimen nach Möglichkeit zu vermeiden. Um dies zu erreichen, empfehlen die deutschen und britischen Leitlinien eine spezielle Schulung des Personals, um den Einsatz von FEM bei der Pflege von Menschen mit Demenz zu reduzieren. Die Ergebnisse eines kürzlich von unserem Forschungsteam veröffentlichten Cochrane Reviews deuten jedoch darauf hin, dass einfache Schulungen allein möglicherweise nicht ausreichen. Dabei handelt es sich um eine systematische und umfassende Analyse vorhandener Forschungsergebnisse. Durch den Einsatz ausgefeilter Methoden zur Auswertung mehrerer Studien bieten Cochrane Reviews zuverlässigere Ergebnisse als einzelne Studien. Unsere Arbeit umfasste 11 relevante Studien mit insgesamt rund 19.000 Teilnehmenden und ist damit die bisher umfassendste Analyse dieser Art.

Eine Frage der Kultur

Unter den von uns untersuchten Maßnahmen waren sogenannte organisatorische Ansätze am wirksamsten. Diese Maßnahmen bestehen aus verschiedenen Komponenten, die als Gesamtpaket zusammenwirken. In den ausgewerteten Studien umfassten sie die Aufklärung des Personals über die Problematik der Anwendung von FEM und über Strategien zu deren Verringerung in der Praxis. Sie beinhalten auch die Förderung einer Änderung der institutionellen Politik und der „Kultur der Pflege“ im jeweiligen Heim. Diese Kultur spielt eine wichtige Rolle bei der Gestaltung der Pflege. Indem man eine personenzentrierte Pflege betont, in der Zwangsmaßnahmen nur ein letztes Mittel sein dürfen, können wir eine Kultur fördern, die die Freiheit und Würde der Bewohner*innen in den Vordergrund stellt.

In drei der von uns untersuchten Studien wurden einzelne Mitarbeiter*innen als Multiplikatorinnen (sogenannte Champions) geschult. Ihre Aufgabe: individuelle Strategien zur Vermeidung von Zwangsmaßnahmen in ihren Einrichtungen zu entwickeln und umzusetzen. Dabei benötigen sie die volle Unterstützung ihrer Vorgesetzten, etwa eine Entlastung von anderen Aufgaben, um ihnen Zeit für ihre Aufgabe zu geben.

„Viele Pflegende versuchen im Alltag, freiheitsentziehende Maßnahmen zu vermeiden. Aber ohne ein klares Konzept wird in der Praxis dennoch häufiger fixiert, als es nötig wäre. Dies hat eben viel mit Team- und Organisationskultur zu tun und nicht nur mit dem Wissen und den Haltungen einzelner Personen.”

Ralph Möhler

Schulungen des Personals sind wichtig, reichen aber nicht

Ein Eckpfeiler erfolgreicher organisatorischer Maßnahmen ist die umfassende Schulung des gesamten Personals. Indem wir sie über die potenziellen negativen Auswirkungen von FEM aufklären, versetzen wir sie in die Lage, fundierte Entscheidungen zu treffen und alternative Betreuungsansätze zu nutzen.

Die Ergebnisse unseres Reviews zeigen jedoch, dass Schulungen allein nicht ausreichen, um den Einsatz von FEM zu reduzieren. Einige Studien kamen zu dem Schluss, dass Schulungen deren Anwendung verringern können. In anderen Studien war dies nicht der Fall oder es wurde nach der Durchführung der Maßnahme sogar eine häufigere Anwendung von Zwangsmaßnahmen festgestellt. Diese durchwachsenen Ergebnisse deuten darauf hin, dass wir uns nicht allein auf Schulungen verlassen sollten. Möglicherweise haben sie für sich genommen zu wenig Einfluss auf Verhalten und Pflegeprozesse.

Als Gesamtpaket umgesetzt, konnten wir jedoch feststellen, dass organisatorische Maßnahmen die Zahl der Bewohner*innen, die körperlich fixiert wurden, um bis zu 14 % verringerten (moderate Vertrauenswürdigkeit der Evidenz nach GRADE). Auf der Grundlage der Studiendaten schätzen wir, dass die Zahl der körperlich fixierten Bewohner*innen, von 274 auf 236 pro 1000 Personen reduziert werden könnte.

Das mag nicht nach einer großen Zahl klingen. Doch jeder einzelne Fall ist wichtig: Es ist ein Mensch mehr, der Bewegungsfreiheit erlebt und seine Autonomie und Würde bewahrt. Ohne Bewegungseinschränkungen können die Betroffenen ihren täglichen Aktivitäten eigenständiger nachgehen, was ein Gefühl der Unabhängigkeit und Eigenverantwortung fördert. Jede*r Bewohner*in ohne Einschränkungen der Bewegungsfreiheit ist ein Beweis für das Engagement des Pflegeteams für eine personenzentrierte Betreuung. Und die ermöglicht eine gute emotionale, körperliche und soziale Entwicklung.

Gute Organisation ist entscheidend

Für die Leiter*innen von Pflegeheimen haben unsere Ergebnisse erhebliche Auswirkungen auf die Praxis. Sich auf Veränderungen auf organisatorischer Ebene zu konzentrieren, ist der Schlüssel zur Unterstützung des Pflegepersonals bei der Änderung im Umgang mit FEM. Designierte Multiplikator*innen und die Bereitstellung von angemessenen Ressourcen für die Verhinderung von Zwangsmaßnahmen können eine positive Pflegekultur fördern. Ebenso wichtig ist eine klare Politik, die FEM nur als letztes Mittel vorsieht, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft wurden.

Die Verringerung körperlicher Zwangsmaßnahmen in Pflegeheimen ist nicht nur eine rechtliche und ethische Verpflichtung. Sie ist auch ein Weg zur Verbesserung der Pflege und des Wohlbefindens der Bewohner*innen. Indem sich Mitarbeitende des Heims auf dem Laufenden halten und evidenzbasierte Praktiken anwenden, können sie ein Umfeld schaffen, in dem die Freiheit, Unabhängigkeit und Würde der Bewohner*innen im Vordergrund stehen.

Stürze vermeiden

Die positiven Auswirkungen der Reduzierung von FEM auf das Leben der Bewohner*innen können gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Indem man ihre Unabhängigkeit und Selbstbestimmung fördern, stärkt man das Selbstbewusstsein unserer Bewohner*innen und sorgt für mehr Zufriedenheit.

Darüber hinaus können wir das Risiko von Stürzen und sturzbedingten Verletzungen verringern, indem wir den Einsatz von Fixierungsmitteln reduzieren. Die Erkenntnisse aus unserem Cochrane Review deuten darauf hin, dass eine Verringerung des Einsatzes von Fixierungen nicht wie befürchtet zu einer Zunahme von Stürzen führt. Dies bestärkt auch die Einschätzung des Expertenstandards „Sturzprophylaxe in der Pflege”, demzufolge der Einsatz von Fixierungen keine wirksame Maßnahme zur Sturzprävention ist und bei Menschen mit Demenz vermieden werden sollte.

Als Leitende von Pflegeheimen hat man die Gelegenheit, sinnvolle Veränderungen voranzutreiben und das Leben der betreuten Menschen zu verbessern. Organisatorische Maßnahmen können den Einsatz körperlicher Zwangsmaßnahmen reduzieren. Sie können so ein Umfeld schaffen, das die Unabhängigkeit, die Würde und das Wohlbefinden Ihrer Bewohner*innen fördert.


Zum Review Interventionen zur Vermeidung und Verringerung der Anwendung von freiheitsentziehenden Maßnahmen bei älteren Menschen in allen Bereichen der Langzeitpflege

Ralph Möhler ist Professor für Versorgungsforschung mit Schwerpunkt komplexe Interventionen am Universitätsklinikum Düsseldorf und Erstautor des vorgestellten Cochrane Reviews.

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