Seit nunmehr zwölf Jahren begutachtet der Medien-Doktor Gesundheit die Qualität des deutschsprachigen Gesundheitsjournalismus. Seine Diagnose: Manche Beiträge verfehlen schon grundlegende Anforderungen, aber es gibt auch Beispiele für hervorragenden Medizinjournalismus. In diesem Gastbeitrag stellt die leitende Redakteurin Astrid Viciano das an der TU Dortmund angesiedelte Projekt vor.
Zunächst klang es nach einer Sensation, was der Artikel auf der Webseite eines Fernsehsenders berichtete. Das Antidepressivum Prozac, das die Konzentration des Glückshormons Serotonin im Gehirn erhöht, sollte künftig auch Patient*innen mit Covid-19 Glück bringen. Eine neue Studie habe ergeben, dass die Arznei Corona-Viren daran hindert, menschliche Zellen zu befallen. Sollte die Wissenschaft endlich eine schlagkräftige Therapie gegen Sars-CoV-2 gefunden haben?
Nun ja: Bei genauerem Lesen fällt auf, dass die Forschenden ihre vermeintlich bahnbrechenden Untersuchungen bis dahin nur in Zellkulturen durchgeführt hatten, nicht an Patient*innen. Was für die Leserinnen und Leser so vielversprechend klang, musste sich in klinischen Studien (die inzwischen anlaufen) erst noch beweisen.
Seit Beginn der Corona-Pandemie erleben wir, wie wichtig, ja lebenswichtig es sein kann, ernsthafte Wissenschaft von haltlosen Versprechen abzugrenzen – auch in den Medien. Wie aber kann es gelingen, das eine vom anderen zu unterscheiden? Was macht guten Medizinjournalismus überhaupt aus? Welche Anforderungen muss ein journalistischer Beitrag dafür erfüllen? Mit diesen Fragen beschäftigt sich der Medien-Doktor Gesundheit, ein Projekt der TU Dortmund. Seit zwölf Jahren sieht sich ein Gutachter*innen-Team aus erfahrenen Journalist*innen Woche für Woche an, wie Medien in Print und Online, Fernsehen und Radio über medizinische Themen berichten.
Der Medien-Doktor bittet zur Untersuchung
Im Jahr 2010 entstand am Dortmunder Lehrstuhl für Wissenschaftsjournalismus zunächst der Medien-Doktor Medizin. Neun Jahre später ging der neue, leicht angepasste Medien-Doktor Gesundheit an den Start. Seitdem greift das Projekt regelmäßig Hinweise von Gutachter*innen und anderen Wissenschaftsjournalist*innen, Forschenden und Laien auf besonders gelungene oder kritikwürdige Beiträge auf. Die Gutachter*innen des Medien-Doktor bewerten diese aktuellen Artikel oder Sendungen zeitnah mithilfe eines transparenten Kriterienkatalogs. Er richtete sich zunächst nach Vorbildern wie HealthNewsReview.org in den USA oder Media-Doctor in Australien. In Diskussion mit den Gutachter*innen wurde er dann stetig evaluiert und weiterentwickelt. Weltweit ist das deutsche Projekt inzwischen das einzige, das auf diese Weise die medizinische Berichterstattung begleitet.
Was macht guten Gesundheitsjournalismus aus?
Dabei verwenden die Gutachter*innen heute sowohl Kriterien, die speziell auf medizin- und wissenschaftsjournalistische Beiträge zugeschnitten sind, als auch solche für die allgemeine journalistische Qualität. So prüfen die Medien-Doktor*innen beispielsweise die Verständlichkeit der Sprache, etwa ob Fachbegriffe wie „Desoxyribonukleinsäure“ erklärt und lange Schachtelsätze vermieden werden. Ein Punkt ist hier auch die Wahl des Beitrag-Themas, das aktuell und relevant für Leserinnen und Leser sein sollte.
Welche Kriterien aber sind vor allem für Wissenschaftsjournalisten von Interesse? Komplexe Zusammenhänge verständlich zu erklären, gehört hier zu den Grundanforderungen. Guter Wissenschaftsjournalismus sollte aber über das reine Erklären hinaus gehen. Interessenkonflikte von Forschenden zum Beispiel sind manchmal entscheidend, um deren Aussagen zu neuen Entwicklungen einordnen zu können. Das gilt erst recht in der aktuellen Covid-19-Pandemie, mit vielen widersprüchlichen Meldungen zu potenziellen Wirkstoffen und Impfungen. So verteidigte ein Forscher in einem Medienbeitrag das schlechtere Abschneiden eines Corona-Impfstoffs damit, dass womöglich in der betreffenden Studie die Dosierung zu niedrig gewesen sei. Unerwähnt bleibt im Artikel jedoch, dass der zitierte Forscher Mitbegründer des Impfstoffherstellers ist. Das Eigeninteresse am Erfolg des Vakzins könnte also seine wissenschaftliche Einschätzung beeinflussen.
Vorsicht vor schnellen Schlussfolgerungen
Manchmal ziehen Medien auch Schlussfolgerungen aus Studien, die sich daraus gar nicht ableiten lassen. Bis zu 25 Tassen Kaffee pro Tag seien für Herz und Kreislauf unbedenklich, hatte zum Beispiel die Webseite einer Regionalzeitung unter Bezug auf eine Studie berichtet. Was auf den ersten Blick als solide Aussage erscheint, erweist sich auf den zweiten als reichlich morsch: In der Studie hatten die Forschenden gar nicht untersucht, ob starker Konsumkonsum öfter zu Herzinfarkt oder Schlaganfall führt. Stattdessen hatten sie lediglich das nur indirekt relevante Merkmal der arteriellen Steifheit von Blutgefäßen am Herzen untersucht – und dabei keinen Unterschied zwischen Menschen mit hohem und niedrigem Kaffeekonsum gefunden. Über das Gesundheitsrisiko des schwarzen Gebräus verrät dies allerdings nur wenig.
Wie neu und aussagekräftig sind Studienergebnisse wirklich?
Vor allem in den vergangenen Monaten der Pandemie ging es im Qualitätsjournalismus darum, keine verfrühten Hoffnungen auf eine Therapie oder einen Impfstoff zu wecken, wie etwa in besagtem Artikel über das Antidepressivum Prozac gegen Covid-19. Die Gutachter*innen des Medien-Doktors prüfen daher genau, ob Forscher einen Wirkstoff nur im Labor eingesetzt oder tatsächlich schon in großen klinischen Studien an Patienten getestet haben. Besonders achten sie auch darauf, ob die Medien neue Studienergebnisse in den Kontext des jeweiligen Forschungsbereichs eingeordnet haben. Haben Wissenschaftler einen Botenstoff tatsächlich erstmals entdeckt? Oder haben sie die Untersuchungen anderer Arbeitsgruppen nur bestätigt? Nur so können Leser*innen verstehen, wie relevant eine neue Studie tatsächlich ist.
Einordnung durch unabhängige Expert*innen
Um solche Fragen zu klären, sollten Journalist*innen unabhängige Expert*innen befragen und sie bitten, die aktuelle Fachpublikation zu kommentieren. Dies geschieht jedoch oft nicht, wie die Bewertungen des Medien-Doktors ergaben. Eine solche Einordnung durch unabhängige Experten lässt sich auch nicht ersetzen, in dem man zum Beispiel einen Kommentar eines Gesundheitspolitikers auf Twitter zitiert, wie es in den vergangenen zwei Jahren der Pandemie vorkam: Eine Studie zu einem Asthma-Inhalator könnte „immense Bedeutung“ haben, hatte eine Webseite etwa den heutigen Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach aus seiner Kurznachricht zitiert. Weitere Einordnungen oder auch nur Details der zugrundeliegenden Studie sucht man im Text vergeblich.
Eine Pressemitteilung ist noch kein Journalismus
In der Fülle von Versprechungen zu neuen Covid-19-Therapien kommt es sogar vor, dass Medien den Text von Pressemitteilungen eins zu eins übernehmen. So etwa in diesem Beispiel. Naturgemäß kommen dann nur die an der Studie beteiligten Forschenden zu Wort, die die angebliche Bedeutung ihrer Studie unterstreichen. Kritische Aspekte dagegen fallen unter den Tisch.
Journalistische Beiträge übernehmen manchmal sogar typische PR-Formulierungen. So bezeichnete in diesem Fall ein Artikel die beteiligte Universität als „Keimzelle für wegweisende wissenschaftliche Erkenntnisse“. Aus diesem Grund sehen sich die Gutachter*innen des Medien-Doktors stets genau an, ob der journalistische Beitrag tatsächlich auf einer eigenen Rechercheleistung abseits des Pressematerials fußt.
„Disease Mongering“: erfundene Krankheiten
Zudem analysieren sie, ob die Krankheit in einem Beitrag angemessen oder übertrieben dargestellt wird. Manchmal sind angeblich neue Leiden sogar nur die Erfindung einer Marketingabteilung. So wurde in vergangenen Jahren etwa Schüchternheit zu einer vermeintlich behandlungsbedürftigen Krankheit erklärt und prompt eine Arznei dagegen vorgestellt. „Disease mongering“ nennt man dieses seit langem bekannte Vorgehen der Pharmabranche, um neue Märkte für Medikamente und Therapien zu erschließen. Leider helfen unkritische Medien dabei allzu oft mit.
Medizin in Frauenmagazinen
Die Bewertungen des Medien-Doktor Gesundheit anhand allgemein-, wissenschafts- und medizinjournalistischer Kriterien sollten in den vergangenen Jahren vor allem Journalist*innen über ein breites Spektrum von Publikumsmedien helfen, ihre tägliche Arbeit zu hinterfragen und zu verbessern. Aber auch wer nicht „vom Fach“ ist, kann damit seinen kritischen Blick auf die mediale Berichterstattung zu Gesundheitsthemen schärfen. Als nächstes wollen sich die Medien-Doktor*innen auf Publikationen für eine spezielle Zielgruppe konzentrieren, in der solche Themen besonders beliebt sind: Frauen. Sie werden unter die Lupe nehmen, wie Frauenmagazine über Gesundheit berichten – von „Bild der Frau“, über „Freundin“ bis hin zu „Emma“.
Weitere Informationen: Neben dem Medien-Doktor Gesundheit gibt es auch den Medien-Doktor Umwelt (pausiert derzeit) und den Medien-Doktor Ernährung, der in Kooperation mit dem Forschungsprojekt nutriCARD der Universität Leipzig entwickelt wurde. Wer stets auf dem Laufenden über neue Beiträge bleiben will, kann sich für den Newsletter Medien-Doktor Gesundheit anmelden.
Dr. Astrid Viciano ist Ärztin und arbeitet neben ihrer Tätigkeit beim Medien-Doktor vor allem für die Süddeutsche Zeitung und das Magazin GEO. Zudem beschäftigt sich mit Hilfe europäischer Stipendien in Cross-Border-Teams mit investigativen Recherchen.