„Wenn der Rücken schmerzt“ – So lautete der Titel einer Themenserie, in der wir 2019 Cochrane Evidenz zu verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten für Kreuzschmerzen vorgestellt haben. Nun nimmt ein neuer Cochrane Review unterschiedliche Arten von Bewegungstherapien bei Kreuzschmerzen unter die Lupe. In einem ergänzenden Video kommentiert Physiotherapeut Sebastian Köcker die Ergebnisse aus Sicht des Praktikers.
Bewegung hilft in vielen Fällen sehr gut bei Kreuzschmerzen – das ist inzwischen weithin anerkannt und spiegelt sich auch in aktuellen Leitlinien wider. Lange vorbei die Zeiten, in denen man Schonung und Bettruhe empfahl. Und so ist der häufigste Rat, den zu hören bekommt, wer sich hilfesuchend an einen Arzt oder Therapeuten wendet: „Bewegen Sie sich, machen Sie Übungen!“.
Das klingt so einfach – aber was für Übungen sollen es sein? Wer sich mit dem Thema Bewegung zur Behandlung von Kreuzschmerzen befasst, stellt fest: Es gibt eine riesige Vielfalt von Ansätzen. Und die meisten davon beanspruchen, der beste zu sein. 2019 haben wir in einem Beitrag aus unserer Themenserie zu Rückenschmerzen bereits Cochrane-Evidenz zu verschiedenen Bewegungstherapien vorgestellt.
Die Vielfalt von Möglichkeiten macht auch Physiotherapeut*innen die Beratung ihrer Patient*innen schwer. Ein neuer Cochrane Review fasst nun die aktuelle Evidenz zu Bewegungstherapien bei Kreuzschmerzen zusammen. Er basiert auf knapp 250 Studien und ist damit wohl die bislang umfangreichste Zusammenfassung von Studien zur Wirksamkeit von Bewegungstherapien bei Kreuzschmerzen.
Chronische nicht-spezifische Kreuzschmerzen
In dem Cochrane Review geht es um Erwachsene mit chronischen nicht-spezifischen Kreuzschmerzen. Gemeint sind Kreuzschmerzen, die auf keine spezifische Ursache wie zum Beispiel einen Bruch oder Tumor zurückzuführen sind. Zudem müssen sie laut Definition mindestens über 12 Wochen hinweg bestehen oder mehrfach wiederkehren.
Die Autor*innen berücksichtigten klinische Studien, in denen eine Bewegungstherapie mit einer „Minimalbehandlung“, einer anderen konservativen (nicht-operativen) Behandlung oder einer anderen Bewegungstherapie verglichen wurde. „Minimaltherapie“ wurde von den Autoren definiert als keine Behandlung, die „übliche“, meist vom Hausarzt veranlasste Behandlung, oder einer Placebo- („Schein“-) Behandlung. Die Bewegungstherapie konnte Übungen zur Kräftigung, Dehnung, Stabilisierung (einschließlich Pilates), Beweglichkeit, Ausdauer, funktionelle Übungen, McKenzie-Übungen, Yoga oder Kombinationen aus diesen beinhalten. Die wichtigsten Ergebniskriterien waren, welche Wirkung die Therapien auf die Kreuzschmerzen und die funktionellen Beeinträchtigungen der Teilnehmenden hatte. Zudem wurden unerwünschte Wirkungen dokumentiert.
In Tabelle 1 finden sich einige grundlegende Informationen zu dem Review. Die Autor*innen des Reviews veröffentlichten kurze Zeit später eine ergänzende Arbeit. Darin stellen sie die Ergebnisse einer umfassenderen statistischen Analyse der Daten eines Großteils der Studien in einer sogenannten Netzwerk-Metaanalyse dar. Dabei handelt es sich um ein statistisches Verfahren, das den Vergleich der Ergebnisse einer größeren Anzahl verschiedener Therapien erlaubt. Auf diese Weise lässt sich ermitteln, welche von mehreren Therapien die Wirksamste ist.
Viele Studien, neue Analysemethoden
Die 249 in den Cochrane Review eingeschlossenen Studien umfassen über 24.000 Teilnehmende. Die Netzwerk-Metaanalyse umfasst die Daten von 20.969 Teilnehmenden aus 217 Studien.
Was wurde in den Studien untersucht?
Viele der in dem Cochrane Review eingeschlossenen Studien untersuchten eine gemischte Bewegungstherapie, die mehr als zwei unterschiedliche Übungsformen umfasste. Die häufigsten waren Stabilisationsübungen für den Rumpf („Core exercises“), allgemeine Kräftigungsübungen, Stretching, aerobe Übungen und Pilates. Fast die Hälfte der Bewegungstherapien wurde als rückenspezifisch klassifiziert, ein knappes Drittel als den ganzen Körper einbeziehend.
Die Bewegungstherapien wurden zumeist entweder individuell oder in Gruppen betreut. Sie waren zumeist niedrig dosiert, umfassten also weniger als 20 Stunden. Im Mittel wurden die Bewegungstherapien über 12 Stunden und einen Zeitraum von acht Wochen durchgeführt. In mehr als der Hälfte der Studien wurde die Bewegungstherapie durch andere Maßnahmen ergänzt, darunter Beratung oder Schulung, Elektrotherapien oder Manuelle Therapie. Als Vergleich diente in einem überwiegenden Teil der Studien eine andere konservativen (nicht-operative) Behandlung, darunter Schulung, Physiotherapie ohne Übungen, Manuelle Therapie, Elektrotherapie oder eine psychologische Therapie. Die Nachbeobachtungszeit reichte von unmittelbar nach bis zu zwei Jahre nach dem Ende der Bewegungstherapie.
Wie gut waren die Studien?
Die meisten Studien waren von einem Risiko für Verzerrung (Bias) betroffen. Das bedeutet, dass die Ergebnisse mit Zurückhaltung interpretiert werden müssen. Ein typisches Verzerrungsrisiko von Studien zu Bewegungstherapien ist, dass sie häufig nicht „verblindet“ werden können. „Verblindet“ bedeutet, dass während der praktischen Durchführung der Studie keiner der Beteiligten weiß, welcher Vergleichsgruppe die einzelnen Patient*innen zugeteilt sind. Ohne Verblindung können Erwartungen oder Vorlieben die Ergebnisse beeinflussen.
Und was kam heraus?
Insgesamt wirkten fast alle Übungsformen besser gegen Schmerzen und funktionelle Beeinträchtigungen als eine Minimalbehandlung und als die meisten anderen Vergleichsbehandlungen. Dabei wurde die Wirkung auf die Schmerzen als „klinisch relevant“ eingeschätzt, die Wirkung auf funktionelle Einschränkungen dagegen nicht. „Klinisch relevant“ ist eine Verbesserung, wenn Patienten sie als bedeutsamen Unterschied wahrnehmen. Wo die Grenze zwischen relevant und nicht relevant verläuft, legen Review-Autoren zumeist vorab auf Grundlage von Studien oder klinischen Erfahrungswerten fest. Im vorliegenden Cochrane Review beispielsweise galt eine Verringerung der Schmerzintensität von 15 Punkten auf einer Skala von 0 bis 100 als untere Grenze für einen relevanten Effekt.
Pilates und Bewegungstherapien mit dem Fokus auf der Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit sowie Therapien nach dem McKenzie-Konzept waren insgesamt wirksamer in der Verringerung der Schmerzen als andere Bewegungstherapien und Vergleichsbehandlungen. Die Autor*innen merken jedoch an, dass die in den eingeschlossenen Studien beobachtete Wirkung der McKenzie-Therapie möglicherweise mit einer höheren Dosierung und zusätzlich durchgeführten Behandlungsmaßnahmen zusammenhing. Analysen, in denen dies berücksichtigt wurde, zeigten keine bessere Wirkung dieser Therapieform.
Bei den meisten Bewegungstherapien schien eine hohe Dosierung eine bessere Wirkung auf Schmerzen und funktionelle Beeinträchtigungen zu haben als eine niedrige Dosierung. Zudem schien die Ergänzung der Bewegungstherapien durch zusätzliche Maßnahmen die Wirksamkeit zu verbessern. Studien, in denen unerwünschte Wirkungen untersucht wurden, berichteten größtenteils von lediglich milden unerwünschten Wirkungen, vor allem von verstärkten Kreuzschmerzen und Muskelkater.
Können wir den Ergebnissen vertrauen?
Die Vertrauenswürdigkeit der Evidenz nach GRADE wurde größtenteils als niedrig bis moderat eingestuft. Ein wesentlicher Grund für die Herabstufung der Vertrauenswürdigkeit der Evidenz war eine hohe „Heterogenität“ der Studien und ihrer Ergebnisse. Dies bedeutet, dass sich Studien in ihren Merkmalen wie z.B. den untersuchten Patientengruppen, Bewegungstherapien, Vergleichsbehandlungen, Ergebnismessungen unterscheiden und/oder zu voneinander abweichenden Ergebnissen kommen.
Was lässt sich aus den Ergebnissen schließen?
Der Review stärkt die bereits verfügbare Evidenz zur Wirksamkeit der meisten Bewegungstherapien zur Behandlung von Kreuzschmerzen. Aus Sicht der Autor*innen des Reviews sollte man deshalb Patient*innen in erster Linie ermutigen, eine Bewegungsart auszuwählen, die ihnen Spaß macht. Denn das hilft, auch über einen längeren Zeitraum bei der Stange zu bleiben. Eine weitere Schlussfolgerung: Höhere Dosierungen sind offenbar wirksamer als niedrigere. Sofern verfügbar, bezahlbar und mit den Vorlieben der Patienten in Übereinstimmung, können Pilates, eine Therapie nach dem McKenzie-Konzept oder eine Bewegungstherapie mit dem Fokus auf der Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit als Bewegungsprogramme empfehlenswert sein.
Allerdings sind diese Therapien zum Teil nur als Selbstzahlerleistung im Angebot. Die Review-Autor*innen halten es deshalb für möglich, dass die Einkommensverhältnisse der untersuchten Patientengruppen die Ergebnisse beeinflusst haben könnten. Es ist bekannt, dass ein niedrigerer sozioökonomischen Status ein Risikofaktor für eine Chronifizierung von Rückenschmerzen ist.
Trotz der großen Zahl eingeschlossener Studien sind die Ergebnisse des Reviews nicht in Stein gemeißelt: Da die Autor*innen die Vertrauenswürdigkeit der Evidenz größtenteils als niedrig bis moderat einschätzen, könnten zukünftige Studien die Ergebnisse des Reviews noch verändern.
Was bedeuten die Ergebnisse für die physiotherapeutische Praxis?
Wir haben für das abschließende Videointerview einen erfahrenen Praktiker gebeten, uns zu erklären, was die Ergebnisse dieses Reviews für die alltägliche Arbeit von Physiotherapeut*innen bedeuten. Sebastian Köcker ist Physiotherapeut (MSc) und Orthopädischer Manualtherapeut. Er arbeitet bei UNIFIT an der Uniklinik Freiburg.
Zum Review Bewegungstherapie bei chronischen Kreuzschmerzen