Viele Männer bekommen im Laufe ihres Lebens Erektionsstörungen. Kann Ginseng wirksame und sichere Abhilfe schaffen? Ein Cochrane Review hat die Evidenz zu dieser Frage ausgewertet.
Erektionsstörungen sind häufig: Schätzungen zufolge sind ca. 20 Prozent der Männer zwischen 50 und 59 Jahren sowie ca. 40 Prozent der Männer zwischen 70 und 75 Jahren betroffen. Sie haben über einen längeren Zeitraum beim Sex keine oder keine ausreichende Erektion. Beziehungsprobleme, verminderter Selbstwert und reduzierte Lebensqualität zählen zu den möglichen Folgen.
Die Ursachen der Impotenz, wie die “erektile Dysfunktion” (ED) auch bezeichnet wird, sind vielfältig. Das ist wenig verwunderlich, denn schließlich müssen für eine Erektion Herz-Kreislauf- und Nervensystem sowie Hormone und Psyche zusammenwirken. Mitunter sind Erektionsprobleme ein Hinweis auf eine zugrundeliegende Erkrankung, zum Beispiel Diabetes oder Gefäßerkrankungen. Oft spielt das Alter eine Rolle oder die Einnahme bestimmter Medikamente. Deshalb ist ein Arztbesuch durchaus ratsam.
Selbstbehandlung mit Ginseng
Ginseng soll ein wirksames Potenzmittel und “natürliches” Aphrodisiakum sein – das zumindest versprechen diverse Quellen im Internet. Und so wird die angebliche Wirksamkeit von Ginseng theoretisch begründet: Grob gesagt sollen Inhaltsstoffe des Ginsengs die Durchblutung des Penis fördern sowie Stress und Müdigkeit entgegenwirken. Gerade Männern, die große Scheu vor einem Arztbesuch haben und auf Selbstbehandlung setzen möchten, können die rezeptfreien Mittel aus Ginseng durchaus attraktiv erscheinen.
Was sagt die Wissenschaft?
Ein Forschungsteam von Cochrane hat zusammengefasst, was zur Wirksamkeit und Sicherheit von Ginseng bei Erektionsstörungen bekannt ist. Dafür hat die siebenköpfige Gruppe aus Korea, Australien und Norwegen umfassend nach Einzelstudien zu diesem Thema gesucht und diese nach strengen, vorab festgelegten Kriterien gefiltert. Ziel war es, die Arbeiten mit der höchsten Aussagekraft auszuwerten und auf dieser Basis den aktuellen Wissensstand darzustellen.
Eingeflossen sind in die Analyse 9 Studien aus Südkorea und Brasilien. Teilnehmer waren 587 Männer zwischen 20 und 70 Jahren. Alle hatten eine erektile Dysfunktion, die leicht bis mittelschwer ausgeprägt war. Ein Teil der Männer startete mit einer Vorerkrankung in die Studie, beispielsweise Diabetes und Bluthochdruck.
Ginseng besser als Placebo?
Alle Teilnehmer wurden per Zufall (“Randomisierung”) auf zwei Gruppen aufgeteilt: Entweder bekamen sie verschiedene Mittel mit 800 bis 3000 Milligramm Ginseng täglich, teils in Form von Tabletten. Oder sie erhielten zum Vergleich ein wirkstofffreies Scheinmittel (Placebo). Die meisten Studien waren doppelt verblindet. Das heißt, sowohl das Studienpersonal als auch die Studienteilnehmer kannten die Gruppenzuteilung nicht. Eine solche Verblindung soll verhindern, dass Erwartungshaltungen die Ergebnisse verzerren.
Die Einnahmedauer variierte je nach Studie zwischen 4 und 12 Wochen. Zum Schluss zogen die Forschungsteams den Vergleich zwischen Ginseng- und Placebo-Gruppe, etwa indem sie die Männer mit Hilfe von verschiedenen Fragebögen ausführlich berichten ließen. Gab es durch den Ginseng Unterschiede, etwa hinsichtlich Erektionsstörungen sowie sexueller Zufriedenheit und Leistungsfähigkeit?
Kleiner Effekt – auf dem Papier
Der Cochrane-Review beantwortet diese Fragen, salopp gesagt, zumeist vorsichtig mit: Vielleicht, ein bisschen. Rein rechnerisch verbesserten sich die Erektionsstörungen durch Ginseng ein wenig. Die sexuelle Zufriedenheit und selbst berichtete Leistungsfähigkeit nahmen etwas zu. Diese positiven Effekte waren zwar “statistisch signifikant”, also höchstwahrscheinlich auf den Ginseng zurückzuführen. Aber sie fielen zumeist so klein aus, dass sie im Alltag der einzelnen Männer wohl eher nicht wahrnehmbar sein dürften. Sie gelten als “klinisch nicht relevant”.
Ein Beispiel: Auf einer 30-teiligen Skala (International Index of Erectile Function-5) ergab sich eine Verbesserung der Erektionsstörung um durchschnittlich 3,5 Punkte. Es ist aber davon auszugehen, dass erst eine Verbesserung um mindestens 4 Punkte für die Betroffenen merklich ist.
Wenig Vertrauen in Ergebnisse
Hinzu kommt, dass die derzeitigen Einschätzungen mit einiger Unsicherheit behaftet sind. Das heißt, die Evidenz hat nur eine geringe Vertrauenswürdigkeit. Zukünftige gut gemachte Studien könnten den aktuellen Stand des Wissens noch deutlich beeinflussen.
Das Autorenteam begründet dies etwa damit, dass in den bisher veröffentlichten Einzelstudien wichtige Angaben, etwa zur zufälligen Gruppenzuteilung (Randomisierung), nicht berichtet sind und verschiedene Erhebungsmethoden zum Einsatz kamen. Das erschwert einerseits die Beurteilung der methodischen Qualität und macht andererseits Vergleiche schwierig. Außerdem war die Spannweite der geschätzten Effekte teils sehr groß.
Auch zu den Nebenwirkungen sind nur verhaltene Aussagen möglich: Den Studien zufolge dürften die Ginseng-Mittel wohl eher keine oder nur kleine unerwünschte Effekte haben, etwa Kopfweh, Schläfrigkeit und Magen-Darm-Beschwerden.
Alte und neue Wissenslücken
Interessanterweise existierten Studien zu Ginseng als Potenzmittel, die zwar durchgeführt wurden, zu denen es aber keine Veröffentlichungen in Fachzeitschriften gibt. Das Cochrane-Team vermutet, dass diese Einzelstudien dem Ginseng vielleicht keine Wirksamkeit bescheinigt haben. Eventuell sind sie deswegen sozusagen in der Schublade verschwunden. Eine solche Selektion zugunsten „positiver“ Ergebnisse könnte die veröffentlichte Evidenz in Richtung einer Wirksamkeit verzerren.
Außerdem gibt das Cochrane-Autorenteam zu bedenken, dass sie in ihrer Zusammenfassung nur kurzfristige Effekte und eher geringe Dosierungen untersuchen konnten. Die meisten Studienteilnehmer stammten aus Korea, und möglicherweise sind die dort erhobenen Ergebnisse nicht ohne Weiteres auf Männer in anderen Nationen übertragbar. Alle von ihnen eingeschlossenen Studien dürften Unterstützung von koreanischen Herstellerfirmen erhalten haben – finanziell und in Form von Ginseng.
Mythen und Fakten
Viele Fakten rund um Ginseng sind also noch nicht geklärt. Als Mythos hat sich allerdings erwiesen, dass Erektionsstörungen und andere sexuelle Probleme zum Älterwerden des Mannes dazugehören und hinzunehmen seien.
Es gibt, je nach Ursache und Wunsch der Betroffenen, verschiedene Möglichkeiten, um eine Erektionsstörung zu behandeln. Zu den von Ärztinnen und Ärzten angebotenen Therapieoptionen zählen etwa Injektionen, Reduktion von Risikofaktoren (z. B. Rauchen, Übergewicht) und Psychotherapie. Auch die Wirksamkeit einer Reihe von Medikamenten ist gut belegt. Große Bekanntheit hat beispielsweise der Phosphodiesterase-5-Hemmer Sildenafil erlangt, besser bekannt als „Viagra“.
Quellen
- Lee HW, Lee MS, Kim T-H, Alraek T, Zaslawski C, Kim JW, Moon DG. Ginseng for erectile dysfunction. Cochrane Database of Systematic Reviews 2021, Issue 4. Art. No.: CD012654.
- UpToDate (2021): Treatment of male sexual dysfunction (kostenpflichtig; abgerufen am 26.7.2021)
- UpToDate (2021): Epidemiology and etiologies of male sexual dysfunction (kostenpflichtig; abgerufen am 26.7.2021)
- UpToDate (2021): Patient education: Sexual problems in men (Beyond the Basics) (abgerufen am 26.7.2021)
- Dynamed (2021): Erectile Dysfunction (kostenpflichtig; abgerufen am 27.7.2021)