Können Vitamine und Mineralstoffe als Nahrungsergänzung den geistigen Abbau im Alter verlangsamen? Zwei Cochrane Reviews fassen die Evidenz aus wissenschaftlichen Studien dazu zusammen.
Man muss gar nicht biblischen Alters sein: Irgendwann um die 40 merken die meisten Menschen, dass ihre geistige Leistungsfähigkeit nicht mehr ist, was sie einmal war. Wenn die gelegentlichen Aussetzer in späteren Jahren häufiger und deutlicher werden, kommt bei vielen Angst vor dem geistigen Abbau auf. Und dass dieser eines Tages in eine Demenz übergehen könnte. Auf der Suche nach Gegenmaßnahmen lösen die einen ein Sudoku nach dem anderen, andere lernen ein Musikinstrument oder Fremdsprachen (siehe den Beitrag zum kognitiven Training aus unserer Serie „Gesundes Altern“).
Geistige Fitness zum Schlucken
Doch glaubt man den Versprechungen in Internetforen und Werbung, dann geht es auch einfacher. Nahrungsergänzungsmittel aller Art sollen demnach Linderung für so ziemlich jede unerwünschte Folge des Älterwerdens bringen. Die Nachfrage ist groß: Allein in Deutschland liegt der Umsatz mit solchen Supplementen bei rund 2 Milliarden Euro im Jahr. Einen guten Teil davon machen Präparate für die Verbesserung der geistigen Fitness aus. Dabei müssen Hersteller in der Europäischen Union für den Verkauf von Nahrungsergänzungsmitteln nicht einmal Belege für deren Wirksamkeit vorweisen.
Gibt es solche Belege aus wissenschaftlich stichhaltigen Studien überhaupt und zu welchen Ergebnissen kommen sie? Diese Frage lässt sich wegen der großen Zahl verschiedener Nahrungsergänzungsmittel kaum pauschal beantworten. Zwei 2018 erschienene Cochrane Reviews konzentrieren sich deshalb speziell auf Supplemente mit Vitaminen und Mineralstoffen und ihre Wirksamkeit gegen den geistigen Abbau im Alter. Ganz unplausibel ist eine solche Wirkung nicht, denn Vitamine und Mineralstoffe erfüllen im Nervensystem zweifelsohne wichtige Aufgaben. Aber hat eine zusätzliche Zufuhr über die Nahrung auch wirklich die in Aussicht gestellte vorbeugende Wirkung? Die beiden Cochrane Reviews versammeln dazu die beste verfügbare Evidenz.
Cochrane Review: „Vitamine und Mineralstoffe zur Erhaltung kognitiver Funktionen bei kognitiv gesunden älteren Menschen“
Dieser Cochrane-Review befasst sich mit den Effekten von Vitamin- und Mineralstoffpräparaten auf die kognitive Funktion bei Menschen, die zu Beginn der Teilnahme an den Forschungsstudien keine auffälligen kognitiven Probleme hatten. Der Review umfasst 28 Studien mit mehr als 83.000 Teilnehmern (zumeist älter als 60 Jahre). Doch die Aussagekraft der Evidenz bleibt begrenzt und erlaubt kaum sichere Schlussfolgerungen. Die eingeschlossenen Studien untersuchten eine Vielzahl verschiedener Supplemente, deshalb ist hier nur eine Übersicht über die wichtigsten Teilergebnisse möglich. Angaben zur Vertrauenswürdigkeit der Evidenz basieren auf dem System von GRADE (siehe Beitrag „Die Vertrauenswürdigkeit von Evidenz nach GRADE“ ).
Vitamin B
Die Cochrane-Autor*innen fanden keine Evidenz, dass die Einnahme von Vitamin-B-Präparaten irgendeine Auswirkung auf die Kognition hatte. Dies gilt sowohl für kürzere Zeiträume bis 5 Jahre, als auch für Zeiträume bis 10 Jahre.
Antioxidative Vitamine
Es gab acht Studien zu antioxidativen Vitaminen (beta‐Carotin/Vitamin A, Vitamin C, Vitamin E) mit insgesamt rund 47.000 Teilnehmer*innen. Wegen längerer Behandlungszeiträume hatten sie prinzipiell bessere Chancen, eine mögliche Wirkung auf den Verlust von kognitiven Fähigkeiten erkennen zu können. Die Ergebnisse sind allerdings uneinheitlich. Immerhin kommen die Autor*innen zu dem Schluss, dass eine langfristige Einnahme von antioxidativen Vitaminen der vielversprechendste Bereich für künftige Studien ist. Sie fanden Hinweise auf einen Nutzen für die allgemeine kognitive Funktion bei langfristiger Einnahme von beta-Carotin (durchschnittliche Behandlungsdauer: 18 Jahre) und mit Vitamin C (5 bis 10 Jahre). Allerdings stuften sie die Vertrauenswürdigkeit der Evidenz hierfür als niedrig ein. Zu einer Kombination von mehreren antioxidativen Vitaminen sowie für Vitamin E (allein oder in Kombination mit Selen) fanden sie nur einzelne Studien ohne Beleg für eine Wirksamkeit.
Selen
Für Selen, eingenommen über einen Zeitraum von ca. 5 Jahren, zeigte Evidenz von niedriger Vertrauenswürdigkeit keinen Effekt.
Zink und Kupfer
Evidenz von moderater Vertrauenswürdigkeit spricht dafür, dass Zink- und Kupfer-Supplemente nach fünf bis zehn Jahren nur geringe oder gar keine Auswirkungen auf die allgemeine kognitive Funktion oder das Auftreten von kognitiven Beeinträchtigungen haben.
Supplement-Kombinationen
Kombinationen von B-Vitaminen, antioxidativen Vitaminen und Mineralien hatten nach etwa 8,5 Jahren der Einnahme keine oder nur geringe Auswirkungen auf die kognitive Funktion (niedrige Vertrauenswürdigkeit der Evidenz).
Fazit der Cochrane-Autor*innen
„Wir fanden keine gute Evidenz, die nahelegt, dass Menschen im mittleren Alter oder ältere Menschen durch die Einnahme von Vitamin‐ oder Mineralstoffpräparaten kognitive Funktionen erhalten oder einer Demenz vorbeugen können.“
Vitamine und Mineralstoffe zur Verzögerung des kognitiven Abbaus beziehungsweise zur Vorbeugung von Demenz bei Menschen mit milder kognitiver Beeinträchtigung
Die Ergebnisse dieses zweiten Cochrane Reviews der gleichen Autor*innen-Gruppe lassen sich schnell zusammenfassen: Für Menschen, die zu Beginn der Supplement-Einnahme bereits die Diagnose Mild Cognitive Impairment (MCI) haben, gibt es nicht genug Studienergebnisse, um klare Schlussfolgerungen ziehen zu können.
Zu hochdosiertem Vitamin E und einer Kombination der Vitamine E und C fanden die Autor*innen nur jeweils eine Studie, beide stellten keine Effekte fest.
Fünf Studien mit insgesamt 879 Teilnehmenden, verglichen B‐Vitamine mit Placebo. Sie fanden keinen Unterschied im Erinnerungs‐ und Denkvermögen der Teilnehmenden. Die Entwicklung einer Demenz wurde in den Studien allerdings nicht untersucht.
Die Autor*innen schließen, dass es im Moment keine Evidenz dafür gebe, dass solche Nahrungsergänzungsmittel für Menschen mit milder kognitiver Beeinträchtigung das Risiko einer Demenz verringern.
Welche Lehren können wir aus diesen Reviews ziehen?
Der Wunsch, dem Abbau geistiger Fähigkeiten im Alter entgegenzuwirken, ist mehr als verständlich. Betrachtet man die wissenschaftliche Evidenz kritisch, muss man aber feststellen, dass es keine Wunderpille gegen das Vergessen gibt. Für Vitamin- und Mineral-Supplemente jedenfalls erscheinen selbst geringe Effekte angesichts der Evidenz wenig wahrscheinlich. Allerdings ist das Feld noch längst nicht ausreichend beforscht. Die Autor*innen der beiden Reviews geben zu bedenken, dass das Risiko von Nebenwirkungen auch bei Nahrungsergänzungsmitteln trotz allgemein guter Verträglichkeit nicht zu vernachlässigen sei. Zudem können manche dieser Mittel auf Dauer ziemlich ins Geld gehen.
Was sagen Leitlinien?
Cochrane enthält sich in seinen Reviews bewusst expliziter Empfehlungen. Ihre Evidenz geht aber in eine Vielzahl von Leitlinien ein, in denen Fachleute aus der der Evidenz konkrete Handlungsempfehlungen ableiten. Die aktuellen Leitlinien der Weltgesundheitsorganisation zur Reduktion des Risikos für kognitiven Abbau und Demenz sprechen sich eindeutig gegen die Einnahme einer Reihe von Nahrungsergänzungsmitteln aus. In Sachen Ernährung empfiehlt die Leitlinie lediglich allgemein eine gesunde, abwechslungsreiche Diät die sich idealerweise an einer mediterranen Ernährungsweise orientiert.
Expert*innen haben auch noch eine Reihe weiterer Tipps gegen den geistigen Abbau im Alter, etwa einen guten Schlaf, Bewegung sowie vielfältige Sozialkontakte. Zugegeben: Auch die Effekte dieser Faktoren auf die geistige Fitness sind aufgrund methodischer Hürden nicht gut erforscht. Aber für die meisten Menschen gehören sie ohnehin zu einem zufriedenen, erfüllten Leben.
Hinweise
- Neben Vitaminen und Mineralstoffen haben auch Extrakte des Gingkobaums einen großen Anteil am Markt für Gedächtnis-Pillen. Ein Cochrane Review bewertet die wissenschaftliche Evidenz zu ihrer Wirkung als „inkonsistent und unzuverlässig“. Allerdings stammt er aus dem Jahr 2008 und gibt damit eventuell nicht mehr den aktuellen Stand des Wissens wieder.
- Unsere Kollegen von „medizin transparent“ haben die Evidenz zu einer ganzen Reihe von vermeintlichen Mitteln gegen das Vergessen unter die Lupe genommen – eine Übersicht finden Sie hier.
Dies ist der siebte Artikel unserer Serie zur Gesundheit im Alter.
Hier alle verfügbaren Artikel der Serie:
- Gesundes Altern: eine neue Serie auf Wissen Was Wirkt
- Den Kopf im Alter trainieren: Geistige Leistungsfähigkeit erhalten und Demenz verhindern durch kognitives Training?
- Periphere Nervenblockaden: Eine alternative Schmerztherapie bei Hüftfrakturen
- Bluthochdruck: Ist weniger wirklich mehr?
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- Vitamine und Mineralstoffe im Alter: Kapseln für den Kopf