Der Klimawandel bedroht auch die menschliche Gesundheit. Die Forschung dazu ist ebenso vielfältig wie diese Bedrohungen – und schwer zu überblicken. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse so aufzubereiten, dass sie weltweit die bestmöglichen Entscheidungen ermöglichen, ist eine enorme Herausforderung. Cochrane muss dabei mit seiner Erfahrung eine Schlüsselrolle einnehmen.
Es gibt keinen Zweifel: Der Klimawandel mit seinen Folgen bedroht nicht nur unsere Lebensgrundlagen, sondern auch die Gesundheit der Menschen weltweit auf vielerlei Art und Weise. Der jährlich erscheinende Report „The Lancet Countdown on health and climate change” des renommierten Medizin-Journals „The Lancet” liefert dafür eindrückliche Beispiele:
- Hitzewellen und ihre Folgen: Aufgrund des raschen Temperaturanstiegs waren gefährdete Bevölkerungsgruppen (Erwachsene über 65 Jahre und Kinder unter einem Jahr) im Jahr 2021 weltweit sehr viel mehr Hitzetagen ausgesetzt als im Durchschnitt des Vergleichszeitraums 1986-2005. Die Zahl der direkt hitzebedingten Todesfälle stieg im Vergleich der Zeiträume 2000- 2004 und 2017-2021 um 68 Prozent.
- Infektionskrankheiten:
- Küstengewässer werden immer geeigneter für die Übertragung von Vibrionen (Erreger der Cholera).
- Die Zeiten des Jahres, die für die Übertragung von Malaria geeignet sind, verlängerten sich von 1951-1960 bis 2012-2021 in den Hochlandgebieten Amerikas um knapp ein Drittel und in den Hochlandgebieten Afrikas um ca. 14 Prozent.
- Die Wahrscheinlichkeit einer Übertragung von Dengue-Fieber stieg im gleichen Zeitraum um 12 Prozent.
- Nahrungsmittelversorgung: Die höheren Temperaturen bedrohen unmittelbar die Ernteerträge. So war die Wachstumsphase von Mais im Jahr 2020 im Durchschnitt 9 Tage kürzer und die Wachstumsphase von Winter- und Sommerweizen 6 Tage kürzer als im Vergleichszeitraum 1981-2010.
Der Klimawandel erzeugt auch eine Flut von Studien
Die Beispiele aus The Lancet zeigen: Der Klimawandel hat schon jetzt dramatische Auswirkungen auf die Gesundheit. Und diese nehmen mit jedem Zehntelgrad Erwärmung weiter zu. Das hat auch die Forschung erkannt: Seit Jahren steigt die Zahl von Studien über Zusammenhänge von Klimawandel und Gesundheit steil an – in den einschlägigen Datenbanken finden sich zu diesem Thema längst Zehntausende Veröffentlichungen.
Politische Entscheidungsträger*innen können mit dieser Flut von Studien wenig anfangen. Um den Klimafolgen bestmöglich begegnen zu können, benötigen sie als Entscheidungsgrundlage für Maßnahmen klare und vor allem verlässliche Informationen zum wissenschaftlichen Stand eines jeden Aspekts. Dabei geht es z. B. um Anpassungsmöglichkeiten und wirksame Interventionen, von der Ebene des Einzelnen bis hin zur gesamten Bevölkerung. Cochrane kann einen Beitrag dazu leisten, diese Herausforderung anzugehen.
Die Klimakrise als Gesundheitskrise: direkte, indirekte und soziale Faktoren
Der Zusammenhang zwischen klimabedingten Veränderungen und Gesundheit ist komplex. Direkte, indirekte sowie soziale Einflüsse kommen hier zum Tragen. Das lässt sich gut am Beispiel eines Hochwasserereignisses zeigen: Die wohl drastischste direkte Folge wäre das Mitreißen von Menschen in Wassermassen. Hat man Glück, wird man rechtzeitig gewarnt, evakuiert und entgeht diesem Schicksal. Es bleiben aber immer noch indirekte Folgen der Flut, etwa verschmutztes Trinkwasser oder die Verbreitung von Krankheitserregern. Diese indirekten Folgen sind kaum vermeidbar. Wie gut man mit ihnen zurecht kommt, hängt stark von den ökonomischen, sozialen, medizinischen und infrastrukturellen Bedingungen ab: Sind finanzielle Ressourcen vorhanden, um mit den Folgen der Katastrophe umzugehen? Gibt es eine funktionierende medizinische Infrastruktur? Bestehen Vorerkrankungen, die die Widerstandsfähigkeit des Einzelnen beeinflussen?
Die klimabedingten Expositionen sind austauschbar: Beispiele sind Hitze, Dürre, Luftverschmutzung, Missernten, Klimaflucht oder die Verbreitung von Infektionskrankheiten. Eines aber haben sie alle gemeinsam: Sie wirken sich auf unsere Gesundheit aus. Dabei stehen sie nicht nur jeweils für sich, sondern bedingen einander und verändern wiederum den Kontext, in dem sie entstanden sind.
Alle tragen Verantwortung – auch Cochrane
Die Klimakrise gehört mittlerweile zu unserer Realität, deren Folgen wir global spüren – wenn auch von Region zu Region unterschiedlich stark. Es stellt sich die Frage, auf welcher Ebene man am ehesten Einfluss darauf nehmen kann. Welche Rolle spielen dabei also Unternehmen, Regierungen, Einzelpersonen – und Institutionen wie Cochrane? Die Antwort lautet: Nur wenn alle Beteiligten ihren Einfluss geltend machen und ihren Beitrag leisten, können Anpassungsstrategien gelingen.
Was also ist Cochranes Auftrag in diesem Zusammenhang? Zur Klimakrise und ihren Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit von Menschen gibt es bereits Evidenz in einer Vielzahl von Formen. Eine Gruppe von Cochrane-Autor*innen positioniert sich in dem 2022 erschienen Editorial „Protecting human health in a time of climate change: how Cochrane should respond“ recht eindeutig zu ihrer Rolle. Die Autor*innen des Artikels sehen für Cochrane als internationaler Institution mit großer Expertise in der Erstellung von systematischen Übersichtsarbeiten die Aufgabe, auch im Kontext der Klimafolgenforschung Entscheidungs- und Handlungshilfen in Form von Evidenzsynthesen zu generieren. Die Autor*innen benennen dabei konkrete Punkte, an denen Expert*innen der Community von Cochrane ansetzen können.
Veränderte Kontexte – veränderte Evidenzsynthesen
Wie sieht das konkret aus? Einflüsse und Auswirkungen von klimatischen Veränderungen auf die Gesundheit sind ein breites Forschungsfeld, bei dem es mal um akute, mal um langfristige Zusammenhänge geht. Diese Komplexität spiegelt sich auch in der Studienlage wider. Bisherige Arbeitsweisen und Methoden der Review-Erstellung müssen darauf überprüft werden, ob sie sich für den jeweils untersuchten Zusammenhang eignen oder angepasst werden müssen. Für akute Gesundheitsbedrohungen müssen Ergebnisse beispielsweise schneller zur Verfügung stehen, als der Review-Prozess es normalerweise vorsieht. Sie sollen aber trotzdem in der bestmöglichen Qualität geliefert werden. Hier sind neue Formate wie „lebende“ Evidenzsynthesen gefragt, für deren Entwicklung Cochrane Pionierarbeit geleistet hat. Diese müssen wir nun auf den Klimabereich übertragen.
Gleichzeitig bestehen über viele Zusammenhänge im Detail noch wissenschaftliche Unsicherheiten, welche die Prognosen der Klimafolgenforschung erschweren. Wie kann man auf einer solchen unsicheren Basis trotzdem die bestmöglichen Entscheidungen treffen? Dafür ist eine enge Zusammenarbeit mit sogenannten Stakeholdern nötig. Gemeint sind etwa Politiker*innen, die Entscheidungen zu Hitzeschutzkonzepten treffen oder Gesundheitsbehörden, die die entsprechenden Maßnahmen dazu umsetzen.
Mathematische Modelle: In der Klimafolgenforschung unerlässlich
Die Autor*innen des Editorials verweisen außerdem darauf, dass verstärkt ungewohnte Studiendesigns wie Modellierungsstudien Einzug in die Evidenzsynthesen von Cochrane finden müssen. Modellierungsstudien verwenden mathematische Berechnungen (Modelle), um zukünftige Entwicklungen einschätzen zu können. In akuten Bedrohungslagen wie der Corona-Pandemie oder wenn wie in der Klimakrise empirische Forschung nicht immer möglich ist, können sie uns helfen, handlungsfähig zu bleiben. So erlaubten Modellrechnungen beispielsweise, die Bettenauslastungen in Krankenhäusern zu prognostizieren. Dadurch ließ sich besser abschätzen, ob und wann es zu einer Überlastung der stationären Versorgung kommen könnte.
Allerdings sind Modellierungsstudien immer nur so gut, wie die Annahmen und Parameter, die in ihre Modelle eingehen. Aus diesem Grund hat die evidenzbasierte Medizin die Einbeziehung solcher Studien lange weitgehend gemieden. Doch es wird klar: Ein Festhalten am idealen Studiendesign einer randomisierten kontrollierten Studie (RCT), für das Cochrane Reviews traditionell stehen, muss in der Klimafolgenforschung auch flexibleren Modellen weichen. Auch hier hat Cochrane in der Pandemie große Fortschritte gemacht, die nun dem Klimathema zugutekommen. Ein Beispiel ist hier der Cochrane Review zur Wirksamkeit von Quarantäne-Maßnahmen bei COVID-19, der zum Teil auf Modellierungen beruht.
Auf welche spezifischen Herausforderungen der Thematik muss sich Cochrane einstellen? Die Autor*innen des Editorials stellen fest, dass die Anzahl von Studien zur disziplinübergreifenden Thematik „Klima und Gesundheit“ schnell ansteigt. Es seien deshalb bei der Suche nach Studien extrem viele Treffer zu erwarten, die alle auf ihre Relevanz hin überprüft werden müssen. Daher würden Technologien wie „machine learning“ oder die Vernetzung mit anderen Disziplinen auch in der Evidenzsynthese noch mehr an Bedeutung gewinnen. Generell werde die Forschung zu Klima und Gesundheit in ständig wechselnden Kontexten stattfinden. Das Editorial verweist darauf, Kontexte wie Demografie oder Wirtschaft einzubeziehen und dies auch bei der Zusammenstellung von Review-Teams zu berücksichtigen.
Wir müssen wissen, was wir wissen – und was nicht
Um die Gesundheit von Menschen inmitten dieses längst laufenden Wandels so gut wie möglich zu erhalten, den kommenden Bedrohungen zu begegnen und sie möglicherweise abzumildern, brauchen wir wirksame Maßnahmen. Diese Interventionen sollten wiederum auf möglichst zuverlässigen Erkenntnissen basieren. Und hier kommt Cochrane ins Spiel. Mit den richtigen Methoden und Expert*innen kann es gelingen, die Wissens- und Informationsflut zu ordnen und zu bewerten.
Konkret kann Cochrane dabei helfen:
- akute Fragestellungen zu identifizieren und zu priorisieren,
- bereits bestehende relevante Evidenz aus Cochrane Reviews zu identifizieren,
- die eigene Methodik wie oben beschrieben zu erweitern,
- und schließlich Evidenzsynthesen durchführen, die Grundlagen für Handlungsempfehlungen und politische Entscheidungen liefern.
Gerade der letzte Punkt erscheint angesichts der komplexen Fragestellungen aktuell noch als Mammutaufgabe.
Ich möchte mich dem Schlusswort des Editorials anschließen: Im Rahmen der Coronakrise haben Mitarbeiter*innen von Cochrane gezeigt, dass schnelles Handeln und Mobilisieren für ein Thema möglich ist. Mit diesem Elan müssen wir nun auch die Gesundheitskrise „Klimawandel“ angehen, denn auch hier benötigen Entscheidungsträger*innen zuverlässige Entscheidungsgrundlagen. Das Wissen und die langjährige Erfahrung von Cochrane müssen nun dort genutzt werden, wo sie am dringendsten gebraucht werden: Im Kampf gegen die Folgen der Klimakrise.
Veranstaltungshinweis: Vom 22. bis 24. März 2023 findet in Potsdam der Kongress des Netzwerks für evidenzbasierte Medizin statt. Schwerpunkt in diesem Jahr: „Gesundheit und Klima – EbM für die Zukunft“.
Text: Annika Ziegler ist Ergotherapeutin und Gesundheitswissenschaftlerin und aktuell wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Evidenz in der Medizin am Universitätsklinikum Freiburg. Sie ist zudem Mitglied der AG Klimawandel im Netzwerk für Evidenzbasierte Medizin, die am 24. März im Rahmen des EbM-Kongresses 2023 eine „Fish-bowl-Diskussion über Perspektiven der AG Klimawandel und Gesundheit im Netzwerk“ anbietet.