Fußsohlen eines Neugeborenen, Schwangerschaft und Geburt

Alles auf einen Blick: Cochrane-Evidenz zu Schwangerschaft und Geburt

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Die Geburt eines Kindes ist etwas ganz Besonderes. Neben der Vorfreude auf das Leben als Familie haben die werdenden Eltern aber auch viele Fragen und müssen viele Entscheidungen zu Gesundheitsthemen treffen. Dies ist bei der Fülle von Informationen nicht immer einfach. Welche davon sind unabhängig, vertrauenswürdig und evidenzbasiert? Um Schwangere und werdende Eltern bei der Informationssuche zu unterstützen, hat Cochrane Schweiz zusammen mit dem Schweizerischen Hebammenverband (SHV) Schaubilder zu verschiedenen Themen erstellt, welche die Ergebnisse von Cochrane Reviews knapp und übersichtlich wiedergeben. WissenWasWirkt-Autorin Anne Borchard hat mit vier der beteiligten Hebammen über das Projekt gesprochen.

Was war eure Motivation, euch an dem Projekt zu beteiligen?

Anne Steiner: «Ich habe die Zusammenarbeit mit Cochrane Schweiz aktiv gesucht, weil ich der festen Überzeugung bin, dass wir im Bereich evidenzbasierter Versorgung im Themengebiet Schwangerschaft und Geburt und Wochenbett noch viel Luft nach oben haben. Und für mich ist Cochrane wegen seiner Unabhängigkeit da die erste Ansprech-Organisation.»
Delia Weber: «Einerseits wollte ich meine Kompetenzen im Bereich Studien und deren Interpretation erweitern. Und andererseits fand ich es sehr spannend, wissenschaftliche Erkenntnisse so zusammenzufassen, dass es alle verstehen. Damit man eben nicht einen Master haben muss, um zu kapieren, um was es geht. Das ist das A und O in unserer Beratungsarbeit.»
Sylvie Anne Genier: «Ich interessiere mich seit Studienbeginn für Forschung und Studien. Die Anfrage beim SHV war eine Chance, mich mehr mit der wissenschaftlichen Projektarbeit auseinanderzusetzen. Und natürlich ist es ein grosses Anliegen von mir, Wissenschaft näher zu den Leuten zu bringen.»
Annatina Walther: «Mich hat vor allem motiviert, dass wir Gesundheitsfachpersonen und werdenden Eltern Informationen zur Verfügung stellen können, die ihnen einerseits eine wissenschaftlich fundierte Beratung und andererseits informierte Entscheidungen ermöglichen. Zudem wollte ich mich mit wissenschaftlichen Erkenntnissen in der Hebammenarbeit auseinandersetzten und diese auch in die eigene Arbeit mitnehmen.»

Welches der zehn Schaubilder zu Schwangerschaft und Geburt findet ihr am relevantesten?

Sylvie Anne Genier: «Das Schaubild, dass mich am meisten beschäftigt hat und über das ich am meisten in der Praxis gesprochen habe, ist dasjenige zu den Geburtseinleitungsmethoden: Es zeigt, dass es eben auch nicht-medikamentöse Methoden gibt, die Erfolg bringen können.»
Anne Steiner: «Ich finde das mit den Nahrungsergänzungsmitteln ganz toll. Ich kann mir vorstellen, dass es vielen Frauen hilft, da ganz viele mit einer ganzen Kiste von Nahrungsergänzungsmitteln herumlaufen. Ich kann ihnen dann als Hebamme schon sagen ‚Weisst du, so wahrsinnig viel Evidenz gibt es nicht dafür, dass das was bringt‘. Wenn wir das anhand eines Schaubildes nun anschaulich machen können, macht es das leichter.»
Delia Weber: «Ich finde alle Schaubilder relevant für die Praxis. Sie zeigen allesamt auch auf, wie gross in der Forschung der Gender Gap immer noch ist. Und zwar nicht nur der Gender Data Gap. Insbesondere frauenspezifische Themen werden immer noch zu wenig untersucht und finanziell unterstützt, so dass keine stichhaltige Evidenz für viele Themen vorliegt. Das spiegelt sich deutlich in den Schaubildern wider. Das Schaubild zur Wirkung von Progesteron auf die Prävention von wiederholten Fehlgeburten hat mich persönlich am meisten fasziniert.»

Was für Schwierigkeiten gab es beim Erstellen der Schaubilder?

Annatina Walther: «Ich fand am schwierigsten, die Informationen an die Zielgruppe anzupassen und sie so zu vermitteln, dass die Komplexität reduziert und gleichzeitig wissenschaftliche Erkenntnisse in einer gewissen Komplexität und Differenziertheit korrekt dargestellt werden. Das war eine ziemlich herausfordernde Aufgabe.»
Sylvie Anne Genier: «Mir machte zu schaffen, dass fast kein Review eine hohe Vertrauenswürdigkeit der Evidenz aufwies und teilweise viele Fragen offen liess. Man muss den Menschen dann näherbringen, dass auch ein Mangel an guter Evidenz letztlich eine wichtige Schlussfolgerung ist. Schwierig war auch, dass viele Studien auf Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen fokussierten. Deren Schlussfolgerungen sind oft nicht unbedingt anwendbar auf die Schweiz.»
Delia Weber: «Mein Problem war, den Fokus auf die Zusammenfassung des Reviews zu behalten, Metaanalysen zu verstehen, zu interpretieren und zu bewerten. Und dann genau zu überlegen: ‚Wie schreibe ich es auf, ohne die Aussage zu verfälschen und ohne meine eigene Meinung zu projizieren‘. Da war der Gruppenprozess extrem wichtig, die Diskussion: ‚Wie schreiben wir es, was tun wir rein und was nicht‘.»
Anne Steiner: «Es ist immer schwierig, komplexe Inhalte so runterzubrechen, dass sie leicht verständlich sind. Ich hatte schon geahnt, dass das nicht einfach wird, war dann aber doch etwas schockiert, wie schwierig es wirklich war.»

Beim Erarbeiten des Formats habt ihr auch eine Evaluation der ersten zwei Schaubilder mit werdenden Eltern und Kolleg*innen durchgeführt. Wie waren in beiden Gruppen die Reaktionen auf die Schaubilder?

Anne Steiner: «Die ersten waren einfach unverständlich für die Eltern. Und obwohl wir als Fachpersonen das Gefühl hatten, ist ja alles klar, war das eben nicht so. Es kommt nach meiner Erfahrung häufiger vor, dass man meint ‚Super, das verstehen die schon‘. Aber wenn man dann nachfragt, haben sie es nicht verstanden. Daran krankt unser ganzes Gesundheitssystem: Das wir meinen, dass wir gut informieren. Und wenn wir uns dann vertieft damit auseinandersetzten, müssen wir feststellen: Nein. Wir können uns da nicht mit zu wenig Zeit rausreden. Denn wenn man nicht gut informiert, dann kostet es einen erst recht viel Zeit, weil man ja dann alle Fragen hinterher noch klären muss. Oder man hat schlecht informierte Menschen vor sich. Das ist auch ein Problem».

Werdet ihr die Schaubilder zu Schwangerschaft und Geburt tatsächlich in euren Berufsalltag integrieren können?

Anne Steiner: «Ja. Ich denke, das wird gut ankommen.»
Delia Weber: «Ich denke schon. Ich denke, es ist ein einfaches und schnelles Tool für eine Fachperson einer Klientin zu sagen ‚Hier kannst du dich orientieren, hier bekommst du noch mehr Infos zum Thema‘. Und gleichzeitig ist es für die Fachpersonen selber eine gute und kurze Zusammenfassung.»
Sylvie Anne Genier: «Ich weiss noch nicht, ob wir die Schaubilder im Alltag einsetzen. Aber ich denke schon, dass man die Schaubilder in dem einen oder anderen Kontext zur Hilfe ziehen kann. Zum Beispiel bei der Aufklärung zur Geburtseinleitung.»
Annatina Walther: «Gute Frage. Also ich hoffe es sehr – dafür haben wir sie ja gemacht. Ich denke, das ist von verschiedenen Faktoren abhängig: Zum einen wie wir die Schaubilder bekannt machen und an unsere Zielgruppe bringen. Aber es gibt auch Faktoren, auf die wir wenig Einfluss haben, etwa zeitliche oder finanzielle Ressourcen im Arbeitsalltag.»

Gab es in den ausgewerteten Cochrane Reviews auch Ergebnisse, die Dich überrascht haben?

Sylvie Anne Genier: «Mit einem kritischen Auge kann ich doch bei vielen Reviews sagen, dass nicht auf alle fachlichen Aspekte eingegangen wurde, die ich als wichtig empfinde. Manchmal war ich nicht sicher, ob Fragestellungen von Geburtshelfern untersucht wurden oder von anderen Berufsrichtungen.»
Annatina Walther: «Was ich sehr spannend gefunden habe, ist der Review, der unterschiedliche Methoden zur Beurteilung des Geburtsfortschritts untersucht hat. Aufgrund der Evidenz kann man nicht sagen, welche Methode am effektivsten ist. Und gleichzeitig habe ich das in einem Kontrast zur gängigen Praxis gesehen: In den meisten klinischen Einrichtungen der Geburtshilfe in der Schweiz ist die vaginale Untersuchung eine Routinemassnahme zur Beurteilung des Geburtsfortschritts.»
Delia Weber: «Das Erstaunlichste für mich war: Cochrane ist gut, aber sie sind nicht unfehlbar. Das klingt erst mal naiv. Aber die Mitarbeit bei diesem Projekt zeigte mir auf, dass Cochrane qualitativ auf hohem Niveau arbeitet, es aber immer noch riesige Lücken in den Daten gibt und somit oftmals keine aussagekräftigen Ergebnisse vorliegen. Dies setzt ein gutes wissenschaftliches Verständnis voraus, um die Ergebnisse eines Cochrane-Reviews zu verstehen und in die Praxis transferieren zu können. Zum Beispiel der Review zum Progesteron: Wenn ich die Risikoberechnungen anschaue, sehen die auf den ersten Blick recht gut aus und decken sich mit der Praxis. Aber beim kritischen Analysieren haben wir gemerkt: Die Evidenz ist überhaupt nicht klar und zu wenig aussagekräftig. Auch hier wieder: zu wenig Daten, zu wenig erweiterte Forschung. Und trotzdem ist Progesteron heute ein allgemein anerkanntes Mittel um bei wiederholten Fehlgeburten das Risiko eines erneuten Verlusts zu minimieren. Dabei haben wir schlichtweg einfach keine Daten zu möglicherweise besseren Alternativen.»


Anne Steiner ist Hebamme und Verantwortliche für Qualität und Innovation des Schweizerischen Hebammenverband (SHV).
Sylvie Anne Genier ist Hebamme und hat einen Master of Science in Global Health Policy von der London School of Hygiene and Tropical Medicine.
Annatina Walther ist Hebamme und studiert Sozialanthropologie (BSc).
Delia Weber ist Hebamme in Solothurn und macht derzeit ihren Master of Science an der Fachhochschule Bern.

Die Fragen stellte Anne Borchard von Cochrane Schweiz

Dieses Gemeinschaftsprojekt wurde durch die finanzielle Unterstützung der Fondation SANA ermöglicht. Alle zehn Schaubilder sind als «Faktenboxen» auf dieser Webseite des Schweizerischen Hebammenverbandes zu finden.

Weitere Beiträge zu Schwangerschaft und Geburt auf Wissen Was Wirkt.

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