Eine sehr fettreiche Ernährung – die sogenannte ketogene Diät – wirkt womöglich so gut wie Antiepileptika. Allerdings ist die Diät sehr aufwendig und jede Mahlzeit muss präzise berechnet und abgewogen werden. Von ihrem Alltag erzählen Betroffene.
„Letzten Juli hatte ich einen besonders schlimmen Monat, in dem ich acht oder neun Krampfanfälle pro Woche hatte. Ich war ständig müde“ erzählt die 30jährige Robin*. Dazu kam, dass sie sich nicht konzentrieren konnte: „Ich hatte genug von den Anfällen und den Nebenwirkungen der Medikamente und begann mit der ketogenen Diät.“
Besonderheiten der ketogenen Diät
Diese Ernährungsform ist extrem fettreich und kohlenhydratreduziert. Durch den vermehrten Fettabbau in der Leber entstehen die sogenannten Ketonkörper. Diese versorgen das Gehirn anstelle von Kohlenhydraten mit Energie. Es kommt zu einer Stoffwechselumstellung. Diese Art der Energiegewinnung imitiert den Zustand des Fastens und wird als Ketose bezeichnet. Wie schnell dieser Zustand der Ketose erreicht wird, hängt unter anderem davon ab, wie konsequent die Diät eingehalten wird. Bei Robin hat es knapp sechs Monate gedauert. Jedes Essen wiegt sie dabei exakt aus. Der Kohlenhydratanteil wird präzise auf das Gramm genau berechnet. Sie darf am Tag nur maximal 30g Kohlenhydrate zu sich nehmen. Dagegen wird gesunden Erwachsenen täglich rund 250g empfohlen.
Robin gehört zu dem rund ein Prozent der Bevölkerung in der Schweiz, welche mit Epilepsie leben. Von Epilepsie wird dann gesprochen, wenn es zu wiederholten Krampfanfällen kommt. Diese entstehen bei unkontrollierten elektrischen Entladungen der Nervenzellen im Gehirn. Je nachdem, in welcher Region des Gehirns die Anfälle genau beginnen und wie sie sich im weiteren Verlauf ausbreiten, unterscheiden sich die Symptome. Neben dem Krampfen des ganzen Körpers oder Zuckungen bestimmter Körperteile können auch Bewusstseins-, Gefühls- und Verhaltensstörungen auftreten.
Während zwei Drittel der Betroffenen gut mit Medikamenten behandelt werden können, bleibt bei den übrigen Patienten** die Krankheit schwer therapierbar. Bei diesen Patienten kann eine fettreiche Ernährung, oft in Kombination mit Medikamenten, zufriedenstellend wirken. Während diese Therapie bei Kindern bereits erfolgreich eingesetzt wird, wird sie bei Erwachsenen eher selten angewandt.
Mehr als nur eine Wirkung
„Mit der Diät habe ich weniger Anfälle. Auch habe ich früher oftmals neun Stunden geschlafen, und das hat immer noch nicht ausgereicht. Heute reichen mir acht Stunden. Ich bin viel wacher und viel motivierter“ erzählt Robin.
„Auch bei den Kindern zeigt sich, dass viele Kinder mit der Diät wacher sind“, berichtet Bigna Bölsterli, Epileptologin im Kinderspital Zürich. So auch der 15 Monate alte Thiago. Bei der Routineuntersuchung im Kinderspital ist er hellwach und brabbelt fröhlich vor sich hin. Müdigkeit ist ein häufiges Problem bei Kindern mit schwierig therapierbaren Epilepsien. Dazu tragen nicht nur die Krampfanfälle, sondern häufig auch die Antiepileptika bei. Oftmals ersetzt die Diät bei den Kindern schon ein drittes Antiepileptikum – und ist nicht wie früher letztes Mittel der Wahl. „Ein Vorteil der Diät ist auch, dass sie den natürlichen Krankheitsverlauf der Epilepsie positiv beeinflusst, also nicht nur die Epilepsie unterdrückt, wie das die meisten Medikamente tun“ erklärt Bigna Bölsterli. Medikamente hemmen die Signalübertragung zwischen den Nervenzellen im Gehirn und reduzieren so die Häufigkeit von Krampfanfällen. Auch bestimmte Fettsäuren – die sogenannte Decansäuren – besitzen diese Wirkung. „Die Idee, dass Decansäure so wichtig sein soll, ist spannend, da man dann nur die Fettsäure als Tablette oder Öl geben könnte“ sagt Bigna Bölsterli. Soweit ist die Forschung allerdings noch nicht. Auch soll diese Ernährungsform die Entzündungsreaktionen im Gehirn senken. Eine aktuelle Studie zeigt zudem, dass die ketogene Diät die Darmflora verändert. Diese Veränderung soll sich positiv auf neurologische Erkrankungen – wie auch Epilepsie – auswirken. Es wird angenommen, dass sich die antikonvulsive Wirkung der erhöhten Konzentration von Ketonkörpern und Fettsäuren sowie der reduzierte Glukosespiegel gegenseitig positiv beeinflussen. Jedoch ist dies nicht abschliessend geklärt und weitere Forschung nötig.
Cochrane Evidenz
In einem aktualisierten Cochrane Review wurde in 11 randomisierten kontrollierten Studien mit insgesamt 712 Kindern und 66 Erwachsenen die Wirksamkeit der ketogenen Diät bei schwer therapiebaren Epilepsien über einen Zeitraum von zwei bis maximal sechzehn Monaten im Vergleich zur Standardtherapie (normale Ernährung ohne Einfluss auf die Anfälle oder andere Therapien die zu einer Anfallsreduktion beitragen) untersucht. Bei 35 % bis 56 % der Patienten unter ketogener Diät reduzierte sich die Häufigkeit der Anfälle um mindestens die Hälfte. Dagegen betrug dieser Anteil bei der Kontrollgruppe unter Standardtherapie zwischen 0 und 18 %. Ganz anfallsfrei wurden zwischen 0 % bis 15 % der Patienten unter ketogener Diät im Vergleich zu 0 % bis 9 % unter Standardtherapie (niedriges Evidenzniveau nach GRADE). Auch zeigte eine Studie, dass sich die Lebensqualität der Teilnehmenden verbesserte. Bereits nach vier Monaten waren die Teilnehmenden aktiver, produktiver und weniger ängstlich im Vergleich zur Kontrollgruppe. Es wurde jedoch kein signifikanter Unterschied in den qualitätsangepassten Lebensjahren (QUALYs) zwischen der Gruppe mit ketogener Diät und der Kontrollgruppe festgestellt (niedriges Evidenzniveau nach GRADE). Alle Studien berichteten von Nebenwirkungen durch die Diät, weshalb viele Teilnehmende diese Ernährungsform abbrachen. Nebenwirkungen waren insbesondere gastrointestinale Symptome wie Erbrechen, Verstopfung und Durchfall. Drei Studien berichteten von einem Gewichtsverlust. Seltener wurde von Gallen- oder Nierensteinen, Fettleber, erhöhten Cholesterinwerten (Hypercholesterinämie), Atemwegs- oder Infektionskrankheiten, längere Krankenhausaufenthalten oder Hunger berichtet. Neben den Nebenwirkungen wurde die Diät auch wegen mangelnder Wirksamkeit abgebrochen (niedriges Evidenzniveau nach GRADE). Ob die Diät auch über einen längeren Zeitraum vertragen wird und welche gesundheitlichen Auswirkungen langfristig durch die Diät entstehen, ist derzeit noch nicht ausreichend erforscht. Die Qualität der Evidenz wurde insgesamt als niedrig bis sehr niedrig eingestuft.
Anfallsreduktion und verbesserte Lebensqualität
„Der wichtigste Faktor für eine gute Lebensqualität ist, dass Menschen anfallsfrei werden. In unserer westlichen Welt ist mit Anfallsfreiheit verbunden, dass man beispielsweise wieder autofahren oder bestimmte Hobbies ausüben darf, man sicherer ist und wieder soziale Kontakte eingeht“, so Stephan Rüegg, Leiter der Epilepsie-Abteilung des Universitätsspitals Basel. So hat sich auch die Lebensqualität der 9jährigen Lena mit der ketogenen Diät verbessert. Davor hatte sie bis zu vierzig Anfälle am Tag. „Es war völlig unmöglich damit zu leben“, sagte ihre Mutter. Lena ist zwar unter der Diät nicht vollkommen symptomfrei, eine deutliche Besserung ist aber zu bemerken. Dabei ist „die Diät schon das Durchschlagendste gewesen, um ihre Anfälle zu reduzieren“ sagt Lenas Mutter. Auch die Ärztin bestätigt das: „Wenn die Kinder merken, dass ihnen die Diät deutlich hilft, essen sie eigentlich auch gut“ sagt Bigna Bölsterli. „Lena isst bis auf wenige Ausnahmen immer ihren Teller auf. Dagegen ist die Einnahme von Tabletten viel schwieriger“ erzählt die Mutter. Wie die meisten Kinder musste auch Lena sich zunächst an diese Ernährung und an die kleineren Portionen gewöhnen. „Sie klagte den ganzen Tag über Hunger als sie im Spital eingestellt wurde. Mit fettreichen Mandeln oder Macadamia-Nüssen habe ich Lena bis zur nächsten Mahlzeit hingehalten. Der Magen musste sich daran gewöhnen, dass es nur noch so kleine Portionen gibt, und diese trotzdem nahrhaft sind“ erzählt ihre Mutter. Wie Lena werden alle Kinder, die eine sogenannte klassische ketogene Diät bekommen, im Spital auf diese fettreiche Ernährung umgestellt. Manche Patienten sind bereits nach zwei Tagen in der Ketose und bereits am vierten Tag anfallsfrei. „Für mich ist das jedes Mal ein ausser-irdisches Gefühl, wenn wir das Kind im Spital einstellen und es dann plötzlich heisst, dass es keine Anfälle mehr hat. Jedes Mal bekomme ich eine Gänsehaut und ein Kribbeln“ beschreibt Isabel Fischer, Ernährungsberaterin des Kinderspitals Zürich, diesen Moment.
Ein Leben lang Diät?
In der Regel wird die ketogene Diät – so wie medikamentöse Antiepileptika – für zwei Jahre eingesetzt. „Rein aus epileptologischer Sicht gibt man jedes Medikament, das den Patienten nutzt und zu Anfallsfreiheit führt, für zwei Jahre und setzt es dann ab. Auch unter diesem Aspekt ist die ketogene Diät wie ein Medikament einzustufen“ sagt Bigna Bölsterli. Die Diät oder Medikamente können nach dieser Zeit abgesetzt werden, da die positiven Effekte meist auch nach Absetzten erhalten bleiben. Abgesetzt wird die Diät oder die Medikamente auch, da sich Epilepsien verändern können. Dies insbesondere bei dem sich entwickelnden Gehirn. Bei Erwachsenen werden Medikamente grundsätzlich eher zurückhaltender abgesetzt, da bei Anfallsfreiheit diese beispielsweise Autofahren dürfen. Die Diät kann auch unterbrochen und wieder begonnen werden, wie im Falle von Thiago. „Erst dann habe ich gemerkt, dass es unterstützend gewirkt hat“ erzählt die Mutter. Wenn der Patient auf die Diät anspricht, kann diese auch länger durchgeführt werden. Jedoch sind noch mehr Studien notwendig, um die langfristigen gesundheitlichen Folgen und Nebenwirkungen dieser fettreichen Ernährung zu beurteilen. „Das Einzige, bei dem ich klare Bedenken habe, ist die Unkenntnis wie sich diese extrem fettreiche Ernährung mittel- und langfristig auf die Blutgefässe auswirkt. Es wird sich erst in rund zwanzig bis dreissig Jahren zeigen, ob die dann erwachsenen Menschen ein viel höheres kardiovaskuläres Risiko haben“, sagt Stephan Rüegg.
Therapiemöglichkeit – nicht nur für Kinder
Obwohl noch nicht alle langfristigen Auswirkungen der Diät bis heute bekannt sind, kann die ketogene Diät für Menschen mit medikamentös schwer therapierbaren Epilepsien oder bei denen eine Operation nicht in Frage kommt, eine mögliche Behandlungsalternative darstellen. Trotzdem wird sie bisher meist nur bei Kindern angewandt. Bei Erwachsenen heisst es oftmals, es sei zu aufwendig. Jedoch sollte diese Therapieform nebst Medikamenten auch bei Erwachsenen vermehrt als eine mögliche Alternative bei schwerbehandelbaren Epilepsien mitbedacht werden.
Text: Anne Borchard
*Namen sind der Redaktion bekannt
**Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für alle Geschlechter.
Herzlichen Dank an die Betroffenen und Experten, durch welche dieser Beitrag ermöglicht wurde.
Zusätzliche Videos zum Text
Von den Erfahrungen mit der Diät erzählt eine Mutter:
Von den Erfahrungen mit der Diät erzählt Robin: